Unsere Serie „Lückenschluss“ ist am bayerischen Pendant zum Auftakt-Beitrag Moldau/Erzgebirge – Holzhau angekommen. Auch am Hohen Böhmerwald ist eine frühere Bahnlinie seit Jahrzehnten unterbrochen.
Zweieinhalb Stunden Zugfahrt von Budweis (České Budějovice) liegen hinter mir. Der Triebwagen ist fast leer. Denn kaum jemand nimmt für diese nur knapp 90 Kilometer lange Reise den Zug, die meisten Fahrgäste sind schon unterwegs ausgestiegen. Es folgt die Ankunft im scheinbaren Nichts, auf der Böhmerwald-Hochebene: Station Neuthal (Nové Údolí). Das namensgebende Dorf Neuthal gibt es nicht mehr. Wer also sollte hierherfahren? Etwas über zehn Kilometer sind es bis Wallern (Volary), ins bayerische Haidmühle nicht mehr als zwei. Auf 805 Metern über dem Meeresspiegel zeigt sich ein Mikrokosmos, der Geschichte atmet und im letzten Sommer einmal mehr um eine Facette reicher wurde.
Im Buffet wird ein ordentliches Bier ausgeschenkt. Ich schaue mich um. Die Landesgrenze ist auf der Hochfläche nicht auszumachen. Auf weiter Flur mäandert sie wie die noch junge Moldau, zieht sich bald links bald rechts ihres Ufers und trennt hier den Freistaat Bayern und Tschechien. Doch jäh wird sie sichtbar, die Grenze – dort, wo sie schon längst vergessen war: Barrikaden versperren die Straße nach Haidmühle. An diesem Morgen verirren sich nur wenige Ausflügler hierher. Der Wirt des kleinen Buffets macht aus der Not eine Tugend und bringt das tschechische Bier auch schon einmal an die hier markierte Grenze, wenn deutsche Touristen danach dürsten.
Blick in den Bayerischen Wald am Gleisende seit 1945, direkt an der Staatsgrenze. Foto: Jürgen Barteld
In einer Minute zum Grenzstein
Bei einem Bier innehaltend wird die Situierung der Bahnstation Nové Údolí in böhmischer Einsamkeit deutlich: Die Ortschaft ist längst eine Wüstung, der Eiserne Vorhang senkte sich in unmittelbarer Nähe. Ein kleiner Laden steht zu Diensten, um die Anwohnerschaft aus Deutschland mit dem Wichtigsten zu versorgen. Eisenbahnwagen beherbergen das Buffet samt kleinem Museum, davor ein Freisitz. Und alle zwei Stunden tuckern die orange-grünen Züge nach Krumau (Český Krumlov) und Budweis bzw. Winterberg (Vimperk), Wallern und Prachatitz (Prachatice). Zum Zugbetrieb hier gehört jedoch auch die kürzeste Museumseisenbahn Europas: Da, wo bis 1948 Züge fuhren, liegen immer noch Gleise, auch auf der Brücke über den Grenzbach. Mit einer kleinen Draisine können Interessierte die 105 Meter lange Strecke befahren. Der Verein Böhmerwald Südbahn (Pošumavská jižní dráha) ist es auch, der Museum, Eisenbahnwagen und Buffet mit Schenke betreibt. Freilich, ein Verkehrsbedürfnis bedient diese eher angedeutete Eisenbahn nicht, aber das ist auch gar nicht das Anliegen. Vielmehr ist es das Ziel Grenzen abzubauen, die gemeinsame Geschichte in den Vordergrund zu stellen, und ein wenig Spaß darf auch nicht fehlen.
Für weitere Reisen nach Bayern hinein bleiben heute nur Schusters Rappen oder der Ausflugsbus, der nach Waldkirchen fährt und dort Anschluss an die Ilztalbahn sicherstellt, die im Sommerhalbjahr Freyung und Passau verbindet. In Passau bestehen Anschlüsse in alle Richtungen, womit sich von Budweis aus reizvolle Rundfahrtmöglichkeiten ergeben.
Nimmt die Euregio Fahrt auf?
Doch nicht immer wächst zusammen, was zusammengehört, sondern es wird getrennt, was eigentlich zusammengehört: Als noch die tschechische Staatsbahn ČD die Strecken im Böhmerwald und damit auch jene von Budweis nach Neuthal betrieb, gab es mit dem Donau-Moldau-Ticket eine preiswerte und unkomplizierte Möglichkeit, die Schönheiten dieses abgeschiedenen Landstriches kennenzulernen. Mit der Übernahme durch das Bahnunternehmen GW Train Regio Ende 2017 fand diese erfreuliche Zusammenarbeit ein Ende. Seitdem muss der Reisende wissen, wohin er möchte: Die Tageskarte von GW Train Regio gilt auch auf der Ilztalbahn und im Bus nach Waldkirchen, ist jedoch nur in Tschechien erhältlich. Das Donau-Moldau-Ticket fristet ein Schattendasein ohne österreichische Beteiligung und kostet stolze 27,00 Euro. Dabei sind die Voraussetzungen für eine engere Verzahnung eigentlich ideal: Der deutsche Linienbus hält direkt am Bahnsteig der Züge nach Budweis und Wallern.
Das Bierglas leert sich langsam, inmitten der Ruhe nähern sich von bayerischer Seite zwei Herrschaften und wünschen zu speisen und zu trinken. Woher sie kommen und wie sie hergelangt sind? Geheimnisumwittert war dieser merkwürdige Fleck Erde schon zu der Zeit, als hier nicht nur zwei Staaten, sondern zwei Systeme aufeinandertrafen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Die Grenze, undurchdringlich und menschenfeindlich, war hier ein bisschen durchlässiger als andernorts – nur freilich nicht für Personen. Holz wurde schnell und unauffällig direkt an der Grenze verladen, während der Eisenbahnverkehr von 1977 an schon in Tusset (Stožec) endete.
Der Durst ist gestillt wie auch der erste Hunger nach Information zum Gestern und Heute. Ein paar Kilometer Wanderung liegen noch vor mir, bevor ich die Rückfahrt antrete.
Direkt am End-Haltepunkt lädt das Waggon-Ensemble zu Information und Imbiss ein. Foto: Jürgen Barteld
Wie schnell aus nur noch gefühlten Grenzen wieder tatsächliche Schranken werden können, hat sich im Jahr 2020 eindrucksvoll gezeigt. Ob es gelingt, im Böhmerwald weiter zusammenzuwachsen und die Verkehrsverbindungen zu mehren, wird sich zeigen. Für die Europaregion Donau-Moldau sollte es eine dringliche Aufgabe sein. In Freyung, dem Sitz des Trägervereins, hilft der Budweiser Dr. Jan Gregor die Weichen zu stellen. Als Projektmanager Grenzüberschreitender Verkehr Niederbayern – Südböhmen – Pilsen weiß er jedenfalls ebenso engagierte Partner in den Bezirken an seiner Seite. Sei ihnen baldiger Erfolg beschieden.
Die bayerische Zweig-Bahnstrecke der Linie Passau – Freyung (Ilztalbahn) von Waldkirchen nach Haidmühle im Böhmerwald hatte seit November 1910 direkten Anschluss an die Strecke nach Wallern der einstigen Vereinigten Böhmerwald-Lokalbahnen. Die letzte Teilstrecke Waldkirchen – Jandelsbrunn wurde am 1. Oktober 1995 endgültig stillgelegt und später komplett abgebaut. Nach dem Rückbau der Gleise entstand hier der nach Adalbert Stifter benannte Radweg bis Haidmühle. Zwischen Haidmühle und der Staatsgrenze wurde auf einem Teil des Bahndamms das Klärwerk von Haidmühle errichtet. Während der saisonalen Fahrzeiten der ehrenamtlich betriebenen Ilztalbahn wird die Verkehrsangebots-Lücke zwischen Waldkirchen und Nové Údolí durch eine Buslinie geschlossen.