Foto: Detmar Doering

Dass Franz Kafka zu den ganz Großen der Weltliteratur gehört, wird niemand ernsthaft bezweifeln. Umso mehr überrascht, dass es in Prag, seiner Heimatstadt, erst seit 1989 die Franz-Kafka-Gesellschaft (Společnost Franze Kafky) gibt.

Die grausamen Wirrungen des 20. Jahrhunderts sind auch an der Erinnerungskultur an das reiche deutsch-jüdische Literaturerbe Prags nicht vorübergegangen. Und noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war der Name Kafkas in seinem eigenen Lande Tabu. Das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass nach Naziherrschaft und Vertreibung in der Tschechoslowakei generell ein geringes Interesse, wenn nicht gar eine Aversion gegen die früher so reiche deutsche Kultur im Lande herrschte, sondern Kafka (unten seine von dem tschechisch-israelischen Bildhauer Dan Kulka geschaffene Büste im Tagungsraum der Gesellschaft) war bei den Kommunisten, die 1948 die Macht ergriffen hatten, noch einmal gesondert in Acht und Bann gesetzt worden. Obwohl als Sozialist eigentlich theoretisch für sie vereinnahmbar (und von Marxisten im Westen auch gerne rezipiert), wurden die Bücher Kafkas in der Tschechoslowakei unmittelbar auf den Index gesetzt.

Kafka Büste

Dann kam der Prager Frühling. Im Jahre 1968 war die Zensur vorbei. Tschechische Übersetzungen der Werke Kafkas stürmten – 44 Jahre nach dem Tod des Autors – die Bestsellerlisten des Landes. Möglicherweise, so sagten ernstzunehmende Stimmen, war es nicht nur so, dass die Kafka-Rezeption in der ČSSR nicht nur durch die kulturelle Liberalisierung des Prager Frühlings Aufschwung genommen hatte, sondern dass umgekehrt die Kulturliberalisierung durch die Kafka-Rezeption erst vorangetrieben worden war. Denn die kulturelle Entstalinisierung war ja nicht auf einmal gekommen, sondern hatte sich langsam vorbereitet. Und einer der Meilensteine der Entwicklung war die berühmte internationale Kafka-Konferenz im Jahre 1963, die auf dem seit 1952 von der Akademie für Wissenschaften genutzten Schloss Liblice stattgefunden hatte. Eigentlich hätte es die wegen des Banns über Kafka nicht geben dürfen. Aber man konnte sich das inzwischen erlauben. Und heikel war das Thema: Entfremdung. Das war ein Kernthema für Kafka, aber auch für Karl Marx. Und Kafka in Beziehung zu Marx zu setzen, war ein intellektuell reizvolles, aber gewagtes Projekt.

Die Diskussionen verliefen kontrovers. Während etliche Literaturwissenschaftler aus der DDR den orthodoxen Standpunkt vertraten, Kafkas Auseinandersetzung mit dem Thema Entfremdung kapituliere vor dem Rahmen einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, habe daher für eine fortgeschritttene real-sozialistische Gesellschaft keinerlei Relevanz. Westliche Teilnehmer, wie der Österreicher Ernst Fischer, betonten, dass Kafkas Ideen weiterhin aktuell seien, da sie ein demokratisch-sozialistisches Anlegen mit Bürokratiekritik verbinde. Und dann waren da noch die tschechoslowakischen Teilnehmer, allen voran der Organisator der Konferenz und spätere Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker, der die Ansicht vertrat, dass das Phänomen der Entfremdung gerade in sozialistischen Transformationsphasen besonders stark auftreten könne. Mit Kafka könne man die stalinistische Epoche neu bewerten und andere Wege zum Sozialismus – einem mit „menschlichem Anlitz“ (so dies denn überhaupt möglich ist…) – finden.

Die sehr wirksame öffentliche Vermarktung und vor allem die Tatsache, dass das Ganze unter der Schirmherrschaft der staatlichen Akademie der Wissenschaft stattfand, verlieh der Veranstaltung eine enorme politische Wirkung, wie der in Amerika lehrende Literaturhistoriker Ehrhard Bahr 1980 rückblickend feststellen sollte: „Diese Tagung war mehr als ein literarisches Kolloquium, sie war ein politisches Ereignis.“ Es brachte eine kulturelle Liberalisierungswelle in Gang. 1965 durfte erstmals die Übersetzung von Kafkas Der Process erscheinen. Bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings entwickelte sich die Tschechoslowakei zu einem Land mit vergleichsweise großer Kunstfreiheit. Walter Ulbricht, Generalsekretär der SED in der DDR machte später die Konferenz als Beginn der Abkehr vom Sozialismus aus, die man dann mit dem Truppeneinmarsch im August 1968 beendete.

Kafkas Werke wurden danach nicht wieder verboten, aber erst einmal aus dem Sortiment der meisten Buchhandlungen genommen – außer in Prager Buchhandlungen für Westtouristen. Wer wollte, konnte Exemplare in Büchereien finden. Das war es aber auch. Das änderte sich mit der Samtenen Revolution, die 1989 den Kommunismus zu Fall brachte. Und schon im November wurde eben die Prager Kafka-Gesellschaft gegründet.

Die Kontinuität zur Konferenz von 1963 war gewollte und deutlich sichtbar. Mit dem deutschen Germanisten Kurt Krolop wurde sogar ein damaliger Teilnehmer zum ersten Präsidenten gewählt – ein Amt, das er bis zu seinem Tod 2016 innenhatte. Seitdem ist der Medienunternehmer Vladimír Železný Präsident der Gesellschaft und der ehemalige Geschäftsführer des Bundes Jüdischer Gemeinden, Tomáš Kraus, sein Stellvertreter. Die Gesellschaft residiert heute in der Široká 65/14, mitten im alten Judenviertel Josefov. Es handelt sich um ein vierstöckiges Neobarockhaus aus der Zeit um 1900 (ohne einen biographischen Bezug zu Kafka), in dessen Erdgeschoss eine Kafka und der deutsch-jüdischen Prager Literatur gewidmete Buchhandlung befindet.

Kafka Gesellschaft

Das eigentliche Zentrum der Kafka-Gesellschaft befindet sich jedoch im Hinterhof in einem eingeschossigen Gebäude mit einem Tagungsraum und Bibliothek im Keller. Die Bibliothek ist etwas besonderes. Es handelt sich um eine vom deutschen Autobauer Porsche gespendete Doublette der rund 1000 Bücher umfassenden persönlichen Bibliothek Kafkas, die man aus Bestandsverzeichnissen rekonstruieren konnte. Im Bibliotheksraum und Tagungssaal finden auch zahlreiche der Lesungen, Vorträge und Veranstaltungen der Gesellschaft statt. Womit wir beim Zweck der Kafka Gesellschaft sind. Der ist die Pflege des Erbes von Kafka im speziellen und der der deutsch-jüdisch-tschechischen Kulturtradition mit einer europäischen Zukunftsperspektive – darin dem (übrigens auch von Kurt Krolop mitgegründeten) Prager Literaturhaus ähnelnd. Sie tut das nicht nur durch Veranstaltungen, sondern auch publizistsich. Im eigenen Verlag strebt man die vollständige Übersetzung aller Werke Kafkas ins Tschechische an. Dazu kommt noch wertvolle wissenschaftliche Sekundärliteratur.

Obendrein verleiht man jährlich den renommierten und mit 10.000 Dollar dotierten Franz-Kafka-Literaturpreis (Cena Franze Kafky), den 2001 der jüdisch-amerikanische Schriftsteller Philip Roth als erster bekam. Zu den weiteren Preisträgern gehörten unter anderem Elfriede Jelinek (2004), Václav Havel (2010) oder Margret Atwood (2017). Und auch herausragende Einzelprojekte gibt es. Etwa 2003, als sie das bekannte Franz-Kafka-Denkmal neben der Spanischen Synagoge errichten ließ. Das Werk des bekannten tschechischen Bildhauers Jaroslav Róna (wir berichteten bereits hier), das rechtzeitig zum 120. Geburtstag Kafkas entstand, spiegelt die Surrealität des Kafkaschen Werks auf grandiose Weise wieder. Klar ist: Den Beitrag, den die Kafka-Gesellschaft zur Wiederbelebung und Pflege des Kafkaschen Erbes für unsere Zeit geleistet hat und noch leistet, kann man kaum überschätzen.Kafka Rona


 Ahoj aus PragAhoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:

Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering

… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!

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