Die Sázava, ein Nebenfluss der Moldau, in die er rund 25 Kilometer südlich von Prag mündet, gehört zu den schönsten und romantischsten Wasserläufen Tschechiens. Und zu den schönsten und romantischsten Abschnitten des Flusslaufs gehört der von der kleinen Ortschaft Kamenný Přívoz (Deutsch: Steinüberfuhr) flussabwärts nach Davle. Es erstaunt nur wenig, dass dieser Abschnitt der wochenends zurecht ein beliebtes Naherholungsziel für Ausflügler aus der Hauptstadt ist, als einer der historischen ersten Wanderwege ausgelegt wurde.
Beginnen wir in Kamenný Přívoz selbst, dessen kleiner Bahnhof mit direkter Regionalzugverbindung etwas oberhalb des Ortes liegt. Von hier aus geht man ca. 10 Minuten hinunter zum Flussufer. Wie der Name des 1310 erstmals urkundlich erwähnten Ortes andeutet war hier früher eine Fähre und von hier aus begannen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Flößer Ihre Fahrten flussabwärts zur Moldau nach Prag. Die sind heute nicht mehr da und man kann die Sázava über eine eiserne (und einspurige) Brücke queren, die mittlerweile für Autofahrer so ein Hindernis geworden ist, dass man dieses Jahr mit dem Bau einer neuen Brücke beginnen will. Aber die Brücke lässt man schnell hinter sich, denn jetzt fängt der eigentliche Wanderweg an. Ein Blick zurück über den Fluss und man kann noch einmal die über dem Ort würdevoll thronende Kirche der Heiligen Ludmilla (kostel sv. Ludmily), ein Barockbau aus dem Jahre 1681, bewundern. Hinter der Brücke sollte man übrigens nicht der Empfehlung folgen, die befahrene Straße nach oben zu begehen, sondern sich am Fußweg das Ufer entlang halten. Ist einfach schöner!
Die Umgebung von Kamenný Přívoz war einmal ein wirtschaftlicher Hotspot. Neben der Flößerei – Prag benötgte man viel Holz zum Bauen und Heizen – bestimmten die bis ins frühe 20. Jahrhundert genutzten Goldbergwerke und der Betrieb von Mühlen am Fluss, die man vor allem am gegenüberliegenden Ufer zwischen Kamenný Přívoz und dem benachbarten Ort Žampach bewundern kann (ein Beispiel sieht man im Bild rechts). Aber schon kurz danach dominiert die wilde Natur über die frühindustrialisierte pittoreske Landschaft. Man geht auf gut markiertem, aber nicht asphaltiertem Weg weiter. Die Abhänge und Felslandschaften sind steil und schroff. Um Felsen auszuweichen kann man nicht immer ebenerdig gehen. Stattdessen geht es immer wieder steil auf und ab. Ein wenig Kondition sollte man für die Strecke schon haben.
Wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung wurden die Orte am Fluss früh durch die Eisenbahn mit Prag verbunden. Technisch war der Bau einer Eisenbahn durch die Felslandschaft eine Herausforderung. Das Endergebnis nannte man dann auch stolz Posázavský Pacifik, in Anspielung auf die amerikanische Bahngesellschaft Union Pacific, die in den Vereinigten Staaten den großen und Wilden Westen erschloss. Das größte technische Meisterwerk der Strecke ist zweifelos der 180 Meter lange und fast 42 Meter hohe Žampacher Viadukt (Žampašský viadukt), über den wir schon hier berichteten. Er wurde 1900 eingeweiht. Auf dem Weg flussabwärts kann man ihn gegenüber in seiner ganzen Pracht bewundern – eine der schönsten Aussichten des Wegs.
Als die bisher lukrativen Wirtschaftszweige wie Gold und Flößen zur Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr so recht lukrativ waren, wurde die Bahnstrecke mehr zur Ausflugsroute. Zurecht, denn wenn man den Ort erst einmal hinter sich gelassen hat, betritt man eine malerische Landschaft. Stolz wird dabei immer wieder verkündet, dass man nun ein Areal von beeindruckenden Wasserfällen bewundern kann. Nun, was Wasserfälle (vodopády) angeht, so neigen die Tschechen ein wenig zu Hyperbeln. Die Erwartungshaltung, man bekäme jetzt etwas zu sehen, das die Niagarafälle in den Schatten stellt, könnte ein wenig enttäuscht werden. Aber die steil den Hang herunterfließenden Bäche, die hier in die Sázava fließen sind trotzdem eine Bereicherung des Landschaftsbildes und tragen zur Schönheit des Ganzen bei.
Schon rund 3 Kilometer nach Verlassen der Brücke stößt man am Wegesrand auf die Hostěradické vodopády (Hostěradice Wasserfall, benannt nach Hostěradice, einem Ortsteil von Kamenný Přívoz). Die höchsten Kaskaden, wenn man sie so nennen soll, sind allenfalls 1,5 bis etwas weniger als 2 Meter hoch. Die unterste sieht man im Bild oberhalb rechts. Rund zwei Kilometer weiter und etwas höher gelegen trifft man auf die Ovčínské vodopády, die eigentlich ebenfalls eine sich über mehrere hundert Meter hinziehende steile Klamm ist mit mehreren Kaskaden sind, in denen sich das Wasser zum Teil schon immerhin über zwei Meter (!) in die Tiefe stürzt. Aber die Felsen aus sehr altem und verwitterten magmatischen Trondhjemit, durch die es sich herabstürzt, wirken enorm pittoresk und wild, wie man im Bild links gut sehen kann. Größe alleine ist eben nicht alles!
Rund einen Kilometer weiter kommt der dritte der gefeierten Waserfälle: Der Třebsínský vodopád (etwas unterhalb der auf der Höhe liegenden kleinen Ortschaft Třebsín gelegen). Der ist tatsächlich recht beeindruckend. Obwohl nur mit einer maximalen Kaskadenhöhe von 2,7 Metern ausgestattet, befindet sich der Wasserfall am Zusammenfluss zweier Bäche, die sich mit einem Gefälle von 45° von zwei Seiten tief in den Fels gegraben haben. Man muss regelrecht eine Schlucht überqueren und kommt an der gegenüber liegenden nur mit Hilfe eines als Handgeländer fungierenden Seils wieder hinaus. Besonders in der Zeit der Schneeschmelze muss man das sich wohl dramatisch vorstellen. Ein kleines Stück Abenteuer auf der Route!
Es folgen auf der Höhe etliche bemerkenswerte Aussichtspunkte. Der erste ist die Raisova vyhlídka (Rais-Aussischt), benannt nach dem Schriftsteller Karel Václav Rais, über den wir bereits hier berichteten), der den auf 270m Höhe liegenden Ort gerne besuchte. Sie ist in letzter Zeit ein wenig von Bäumen zugewachsen worden, wie man auf dem Bild links erkennen kann. Um so mehr freut man sich auf die rund 900 Meter entfernte Klimentova vyhlídka (Kliment-Aussicht). Die ist nach dem Lehrer, Wanderaktivisten und lokalen Tourismusförderer Josef Kliment benannt. Wir befinden uns hier nämlich auf dem ersten Abschnitt des legendären Posázavská stezka (Pfad an der Sázava), der 1920 durch den 1888 gegründeten Klub českých turistů (Klubs der tschechischen Touristen) eingerichtet wurde.
Und Kliment war die treibende Kraft und der Planer dieses damals recht einzigartigen und wegen des schwierigen Terrains nicht gerade leicht anzulegenden Wanderwegs, den die Ausflügler heute (entlang der roten Markierung) immer noch so gerne nutzen. Ihm zu Ehren hat man wohl die Sicht immer schön freigehalten. Jedenfalls kann man von einer gut ausgebauten Plattform ungehindert einen richtig atemberaubenden Blick über den sich gemächlich dahinschlängelnden Fluss und die gegenüber liegende Fels- und Waldlandschaft genießen. Der ideale Ort für eine kleine Rast, ohne Frage!
Es handelt sich bei dem Posázavská stezka um einen gut ausgebauten, aber wegen der Steigungen und der kleinen Furten und Stege recht abwechslungsreichen und anspruchsvollen Weg, der immer wieder Höhenumwege oder den engen Raum zwischen Felswänden und Ufer nutzt (man sieht das im Bild links). An Wochenenden kann es hier ein wenig überlaufen sein, weil dann die Prager Ausflügler Zeit haben. Und man kann ihnen ja auch nicht vorwerfen, dass sie gerade diesen wunderschönen Weg so lieben. Aber man kann sich ja auch einmal an einen Wochentag freinehmen. Vielleicht schärft das auch den Blick für die Historie des Weges, der man sich ohne Gedrängel besser widmen kann.
So merkt man bald, dass der ganze Weg immer wieder von manchmal hoch in den Felsen versteckten (Bild rechts) oder in kleinen Klustern (meist Osada, also „Siedlung“ oder „Kolonie“, genannt) am Ufer befindlichen kleinen Ferienhäuschen gesäumt sind. Sie sind in der Regel aus Holz gebaut und stilistisch klar in die Anfangszeit des Weges in den 1920er oder 1935 Jahren zu verorten. In diesen Zeiten gab es eine für damalige Verhältnisse subkulturelle Szene in der Tschechoslowakei, die sich Tramps nannte. Tramps wollten den stressigen Alltag, aber auch die Politik hinter sich lassen, und lieber die Natur beim Wandern genießen. Die Bewegung erlebte übrigens wieder in den 1970er Jahren einen neuen Aufschwung, als nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 Auslandsreisen und sinnvolles politisches Engagement nicht mehr möglich waren. Es gab einen gewissen Trend hin zum Eskapismus. Dazu gehörte damals, dass man sich für längere Aufenthalte Holzhütten baute, die heute zum Teil denkmalgeschützt, aber auch jeden Fall als Kulturerbe gehegt und gepflegt werden. Die heutigen Gelegenheits- und Wochenendbewohner dürften heute die eigentliche Einwohnerschaft von Kamenný Přívoz zahlenmäßig deutlich übertreffen.
Auf jeden Fall begleiten einen die malerischen Häuschen nunmehr den ganzen Weg. Tramp sein, hieß übrigens nie, ein ungeselliger Eremit in der Natur zu sein. Zumindest wenn man das Schild für bare Münze nimmt, das einem dann doch neben einer der Tramperhütten auffallen muss. Das befindet sich beim schon auf dem Gebiet der Gemeinde Hradištko liegenden Klub Starcovy lesní restaurace (wörtlich: Waldrestaurant des Klubs alter Leute). Es ist nicht immer, sondern eher selten offen. Man hat wohl nicht den Anspruch, Ausflügerkneipe zu sein. Anscheinend feiern hier meist eher exklusiv vor allem lokale Bewohner und alte Tramps bei Bier und Grill- aber das wohl heftig. Als die Tramps Anfang der 1970er den kommunistischen Behörden etwas suspekt wurden, wurde das „Restaurant“ geschlossen, aber seit 2018 ist es unter den Fittichen eines alten Tramp-Veteranen wiederauferstanden. Die Beschriftung lautet übersetzt: Vorsicht Kriechtiere!
Keine 400 Meter weiter flussabwärts stößt man dann auf eine große bronzene Gedenktafel, die an den Bau der Wegstrecke erinnert. Hier an diesem Ort fand 1924 die Eröffnung des abschnittweise angelegten Posázavská stezka statt. Übersetzt lautet die tschechische Aufschrift: „Der Posázavská stezka wurde mit einer Länge von 6,8 km für 230.000 CZK vom Klub der Touristen der Tschechischen Republik in Prag in den Jahren 1919–1924 erbaut.“ Der Pfad war übrigens Teil eines größeren Projekts. Er ist heute imemr noch ein wichtiger Abschnitt der turistická trasa č. 0001 (Touristenwanderweg 0001), die vom Klub im Jahre 1889 in Angriff genommen wurde, und 157 Kilometer von Beroun bis Chřenovice und eben durch das Sázava-Areal führt. Es ist der älteste erhaltene Wanderweg des Landes, der vom Touristenklub eingerichtet wurde!
Der felsig klüftige Teil der Wanderung liegt bald hinter uns. Man nähert sich dem am Ufer der Sázava gelegenen Ort Pikovice, der mehr auf freiem Feld und Uferaue liegt. Und hier endet auch der eigentliche Posázavská stezka. Aber natürlich kann man hier entlang der roten Markierung weiter der Wanderlust frönen. Der Fluss fließt hier übrigens schon sehr ruhig, denn der Rückstau der 14 Kilometer unterhalb befindlichen Moldautalsperre Vrané (wir berichteten bereits hier) reicht schon bis hierher. Bald sieht man eine Fußgängerbrücke, die über die Sázava hin zur kleinen Ortschaft Petrov u Prahy führt. Wenn man es sich leicht machen will, geht man eine kurze Strecke uferaufwärts zur kleinen Haltestelle der Regionalbahn, um flugs nach Prag zurückzukehren. Muss man aber nicht.
Denn es lohnt sich, dann doch noch zur nächsten Kleinstadt Davle weiterzuwandern, wo man rund 3,5 Kilometer weiter in die Bahn steigen kann. Hier kann man nun entspannt und bequem völlig ebenerdig auf teilweise asphaltierten oder gepflasterten Wegen spazieren. Der anstrengende Teil der Wanderung liegt hinter einem. man geht zunächst wieder an vielen Wochenendhäuschen und -siedlungen vorbei, die allerdings nicht so historisch bedeutsam und malerisch aussehen wie die der Tramps aus den 1920er Jahren, sondern die eher moderneren Ursprungs sind. Dafür sind sie innen möglicherweise etwas luxuriöser ausgestattet. Und der Weg am Fluss ist immer noch angenehm und die Landschaft ist durch die Häuschen (die ab und an von Bootsstegen aufgelockert sind) in keiner Weise verschandelt.
Nähert man sich dem eigentlichen Ortskern Davles, dann verändert sich das Erscheinungsbild drer Landschaft. Historisch scheint sich hier nicht mehr alles auf Flößerei und Mühlen zu fokussieren. Man kann durchaus sehr reich wirkende landwirtschaftliche Strukturen der Vergangenheit erkennen, etwa das im Bild oberhalb rechts abgebildete neobarocke Gutshaus in der Pikovická 2 aus dem 19. Jahrhundert, das sich recht imposant ausnimmt und – da es anscheinend nicht mehr landwirtschaftlichen Zwecken dient – einfühlsam modern renoviert wurde. Einige Meter weiter passiert man die kleine alte Kapelle des Heiligen Nepomuk (Kaple svatého Jana Nepomuckého), die wohl ebenfalls im 19. Jahrhundert errichtet wurde (Bild links). Ungefahr hier fließt dann die Sázava auch in die Moldau, die sich (dank des Rückstaus der Talsperre) langsam und majestätisch gen Norden bewegt.
Man ist jetzt recht nahe des Ortszentrums und des kleinen Bahnhofs. In der Ferne erkennt man bereits eine kleine Fußgängerbrücke aus Eisen. Das ist die berühmte Davle-Brücke, wo 1968 (in den Zeiten des Kommunismus!) der bekannte US-Kriegsfilm The Bridge at Remagen (Die Brücke von Remagen) gedreht wurde. Wie so etwas möglich war, das ist eine solch lange und seltsame Geschichte ist, dass ich dafür aus Platzgründen auf diesen meinen früheren Beitrag verweise. Kurz vor dieser ehemaligen einspurigen Kleinbahnbrücke, über die man heute zum eigentlichen Ortskern Davles unter Genuss eines schönen Ausblicks über die Moldau spazieren kann.
Darauf kann man aber auch verzichten, um kurz vor der Brücke zum kleinen Bahnhof zu gehen. In meinen Augen ist die tschechischste aller tschechischen Institutionen der ländliche Kleinbahnhof, wo gottlob immer noch mit roten Amtsmützen ausstaffierte Bahnhofsvorsteher hoheitlich, aber freundlich walten. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš hat ihnen mit seiner Graphic-Novel-Trilogie Alois Nebel ein literarisches Denkmal gesetzt. Und es gehört eine – fast immer mit einer kleinen, von einem dunklen Holzzaun umrahmten Terrasse versehene – Bahnhofskneipe dazu. In kleinen Ortschaften nimmt die im Herzen fast den Platz der eigentlichen Dorfkneipe für die örtliche Bevölkerung ein. Es ist immer einfach eingerichtet, schlicht, aber saugemütlich. Manche, wie eben die in Davle, führen ab und an sogar bessere als die üblichen Markenbiere. Zudem gibt im Mahlzeitenangebot tschechische Klassiker (z.B. Utopenci). Die Bahnhofskneipe in Davle heißt auch noch passend Hostinec Remagen (Gaststätte Remagen), in Erinnerung an das große historische Ereignis der amerikanischen Dreharbeiten von 1968. Man kann an einem Sonnentag nicht anders: Man setzt sich hin, wenn noch ein wenig Zeit ist, bis der nächste Zug nach Prag kommt, hin. Dann ist es so schön, dass man die nächsten zwei Züge erst einmal passieren lässt, um vielleicht noch ein Bier zu trinken. Oder noch eins. Das Leben in Tschechien kann doch schön sein!
Ahoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:
Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering
… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!