Entspannte Schönheit an der Moldau: Kein Geschubse, viel Platz, wenige Touristen. Eine günstige Gelegenheit für einen Prag-Besuch, die so schnell nicht wiederkommt.
Ein halbe Stunde bestimmt hat das Pärchen stumm an der Aussichtsrampe der Burg gestanden und einfach nur den Blick genossen. Nächtliche Regengüsse haben Prag frisch gewaschen. Langsam leckt die Sonne die roten Dächer der barocken Wohnhäuser und der pompösen Botschaftspaläste der Kleinseite wieder trocken.
Die Fahnen auf letzteren Gebäuden wehen schon wieder, vom leichten Wind geföhnt. Über der Altstadt, da wo die beiden Türme der Teyn-Kirche und seit kurzem auch eine Replik der Mariensäule den Altstädter Ring bewachen, liegt ein bisschen Dunst.
„Das ist so schön“, bricht es plötzlich aus der Dame heraus, die ihren Mann innig umarmt und küsst. Ein paar Umstehende, des Deutschen mächtig, klatschen spontan. Das Touristenpärchen aus Aschersleben fühlt sich ertappt und lächelt verlegen. Er schon Rentner, sie mit drei Tagen Resturlaub.
Wieder etwas gefasst, erzählt die Frau: „Mein Mann hat im MDR eine Reportage über das touristenfreie Prag gesehen. Da die Grenzen wieder offen sind, haben wir uns auf den Weg gemacht. Das war ein toller Einfall. Es ist einfach traumhaft hier!“
Corona-Preise an der Karlsbrücke
Mit der Übernachtung haben sie Glück gehabt. Im Hotel direkt an der Karlsbrücke gelten noch „Corona-Preise“. 89 Euro für zwei Nächte im Doppelzimmer sind in dieser Superlage wie geschenkt. Im Bierlokal „U Fleků“, das sie aus früheren Prag-Zeiten kannten, hätten sich sogar die Kellner für ihren Besuch bedankt. Da fällt dem erfahrenen Prag-Reporter die Kinnlade runter, kennt er besagtes Etablissement doch als eine „Touristenfalle“ der schlimmeren Art. Aber offenkundig haben unter Corona auch die Härtesten gelitten.
Sogar im „U Fleků“ ist man froh über Touristen. Foto: Egbert Kamprath
Nicht alles hat das Virus in Tschechien verändert: „Gleich hinter der Grenze sind wir wie viele andere in einer Wechselstube über den Tisch gezogen worden. Die gaben uns für 100 Euro nur 1.940 Kronen. Gestern haben wir in Prag erfahren, dass es 2.600 Kronen hätten sein müssen.“ Zum Beweis nestelt die Frau den Beleg des dreisten Betrugs aus der Handtasche. „Aber auf die Kette, die mir mein Mann gekauft hat, gab es 30 Prozent Rabatt“, lächelt sie.
Nur gute Erfahrungen hat ein Ehepaar aus Cottbus gemacht. Dabei wollten die Beiden um diese Zeit eigentlich in Italien am Strand liegen. „Aber das hat nicht geklappt, da sind wir kurzerhand nach Prag gefahren. Es ist alles total entspannt hier. Das Hotel ist nicht annähernd voll, es sind neben uns vor allem tschechische Touristen dort.“ Das Bier schmecke immer noch so lecker wie früher.
„Wir wollen aber vor allem die wundervolle Stadt genießen, die Atmosphäre, die Bauten so unterschiedlicher Stile.“ Sie waren vor acht Jahren zuletzt hier. „Uns kommt Prag diesmal noch schöner vor. Es liegt wohl daran, dass man Platz hat. Nirgendwo Gedränge und Geschubse. Früher war man nach einem Tag immer völlig fix und fertig. So hat Corona am Ende einen schönen Nebeneffekt.“
So leer kan der Veitsdom sein. Foto: Egbert Kamprath
Gespenstisch still mutet es auf dem Burghof mit dem majestätischen Veitsdom an. Vor Corona standen hier täglich Tausende in einer schier endlosen Schlange, um in Tschechiens größtes Gotteshaus Einlass zu bekommen, nachdem sie vorher schon bis zu zwei Stunden an den Sicherheitskontrollen der Polizei am Eingang zum Burgareal hatten zubringen müssen. Babylonisches Stimmengewirr in beachtlicher Lautstärke, nerviges Handyfotoklicken, Flüche über schmerzende Beine und fehlende Bänke – typische Prager Burgatmosphäre eben.
Vor der hatte auch die einzige Reisegruppe Bammel, die jetzt die Szene bevölkert, Leute aus der tschechischen Provinz: „Wir wollten eigentlich in unsere Hauptstadt, so lange die Grenzen dicht waren, weil wir die ausländischen Touristenmassen fürchteten. Nun stehen wir hier fast allein.“ Dann lauschen sie wieder der Führerin.
8 Millionen Touristen im Jahr
Gähnend leer auch die große Touristen-Information. „Hier war drei Monate alles zu, wir waren im Homeoffice und kommen erst wieder in die Gänge“, sagt wie entschuldigend eine der Beschäftigten. Noch sei nicht alles auf der Burg für Besucher geöffnet. Sie hätten deshalb auch ermäßigte Tickets. Das besonders beliebte „Goldene Gässchen“ beispielsweise könne man aber durchstreifen.
Wo sich sonst Touristenmassen durch die Altstadt wälzen, sind derzeit nur leere Gassen zu sehen. Foto: Egbert Kamprath
Auch das Häuschen mit der Nummer 22, in dem 1916/1917 Franz Kafka Kurzgeschichten geschrieben habe. „Wir haben jetzt erste Touristen aus Deutschland und Österreich, auch Franzosen und englisch Sprechende. Mir gefällt das so. Vor Corona sind wir erstickt in den Touristenmengen. Spätestens im nächsten Jahr wird es aber wohl wieder so werden“, fürchtet die Angestellte. Und fügt beim Abschied freundlich hinzu: „Genießen Sie es, wie es jetzt ist.“
Vor Corona beherbergte Prag das Jahr über um die acht Millionen Touristen aus dem Ausland. Tendenz ungebrochen steigend. 40.000 Menschen leben vom Fremdenverkehr, der ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Die Hoffnung liegt deshalb auf einer Rückkehr vor allem der deutschen Touristen, bestätigt Markéta Chaloupková, Direktorin der Tourismuszentrale CzechTourism Deutschland: „Deutsche Gäste spielen eine Schlüsselrolle im tschechischen Tourismus: Die Zahl der ausländischen Touristen in Tschechien wuchs sieben Jahre in Folge – dabei blieben die Deutschen kontinuierlich die Nummer Eins. 2019 besuchten mehr als zwei Millionen deutsche Touristen unser Land, 40 Prozent davon die Hauptstadt Prag.“
Die Prager haben es trotz der vielen Corona-Einschränkungen trotzdem genossen, ihre Stadt mal eine Weile für sich zu haben. Drei Monate ist es her, da Tschechien an einem Wochenende ziemlich überraschend alle ausländischen Touristen aus dem Land expedierte und die Grenzen abriegelte. Danach war die Stadt nicht mehr wiederzuerkennen.
Die Bierpreise sind im Keller. Foto: Egbert Kamprath
Da im Ausnahmezustand auch alle Restaurants geschlossen waren, traf man im sonst völlig überfüllten Zentrum kaum eine Menschenseele. Die Apostel wanderten zur vollen Stunde unbeobachtet an der Astronomischen Uhr am Altstädter Rathaus. Die lästigen Taschendiebe darbten. Wegen der fehlenden fütternden Touristen waren selbst die fetten Tauben auf Diät gesetzt.
Seit die Grenzen wieder offen sind, kehren die Touristen nur langsam zurück. Für Schweden und Portugal bestanden weiterhin Einschränkungen. Einreisen nach Tschechien aus diesen Ländern sind nur mit einem gültigen COVID-19-Test möglich. Am 1. Juli kamen mit Montenegro und Serbien die ersten zwei Länder außerhalb der Europäischen Union hinzu. Markéta Chaloupková sieht darin auch eine große Chance gerade für Touristen aus Deutschland und Österreich.
„Ich glaube, in diesem Sommer werden wir die einmalige Gelegenheit haben, Tschechien und Prag wie nie zuvor zu erleben – entspannter: ohne Touristenmassen, dafür gemeinsam mit den Einheimischen“, sagt sie. Und vielleicht sorgt die Krise ja auch für positive Veränderungen.
Die drei tschechischen Architekturstudenten am Mittagstisch vom „U Glaubiců“ hoffen das zumindest sehr. „Prag ist zu einem Freilichtmuseum verkommen, zuletzt zu einem Hotspot für britische Sauftouristen, die billig einfliegen und laut und rücksichtslos ihre Junggesellenabschiede zelebrieren“, klagen sie.
Überschaubar ist es auch am Wenzelsplatz. Foto: Egbert Kamprath
Doch es tut sich etwas. Im Magistrat meldeten sich mitten in der Corona-Zeit lautstark einflussreiche Leute zu Wort, die „Prag den Pragern zurückgeben“ wollen. Sie haben sich mit der internationalen Plattform Airbnb angelegt, wollen die dort florierende Vermietung von Zentrums-Wohnungen an Touristen verbieten.
„Für die Unterbringung von Touristen sind Hotels und Pensionen gedacht“, sagt die zuständige Stadträtin Hana Kordová Marvanová. „Airbnb verweigert eine Selbstregulierung. Dann ändern wir halt die Gesetze. Wir wollen kein entvölkertes Zentrum. Wir wollen diese Situation so rasch es geht ändern, bevor alles wieder so wird, wie es vor der Epidemie war.“ Corona als Chance für einen anderen Tourismus? Viele Prager würden eine Menge darum geben.
Zurück auf den alten Königsweg und damit auch auf die unvermeidliche Karlsbrücke. Die Brücke ist noch in tschechischer Hand, wie man beim Lustwandeln hört. Und Lustwandeln ist immer noch möglich. Es braucht keinerlei Abstandsgebot.
Gedränge nicht einmal vor der Statue des Heiligen Nepomuk, der einst wegen der Wahrung des süßen Beichtgeheimnisses über die Liebe zweier Menschen brutal in die Moldau gestürzt wurde. Berührt man das Relief über das missliche Ende des Nichtschwimmers, soll es Glück bringen. Vor allem Jungverliebten. Alle scheinen irgendwie jungverliebt zu sein in das derzeitige, noch so ungewohnt andere Prag.