Tschechien hat turnusgemäß die Führung der Visegrád-Gruppe mit Polen, Ungarn und der Slowakei übernommen. Doch es mehren sich Zweifel, ob das Bündnis noch eine Zukunft hat. In Grundfragen sind sich nur noch Tschechen und Slowaken einig. Wie lange noch, ist jedoch auch offen.
Tschechiens konservativer Premier Petr Fiala war beim jüngsten EU-Gipfel stinksauer. Bis tief in die Nacht hatte er seine Kollegen aus Warschau und Budapest, Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán, bekniet, das Papier zur EU-Migrationspolitik mitzutragen. Erfolglos. Dabei hatte er zu diesem Zweck mit aller Macht einen Antrag durchgebracht, wonach die EU die Länder finanziell unterstützen möge, die seit Beginn des Putin-Feldzugs gegen die Ukraine die Hauptlast der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zu tragen haben. Dazu gehören die vier Visegrád-Länder Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn.
Der europapolitische Korrespondent der Zeitung Deník, Luboš Palata, sah danach auf einer Pressekonferenz einen Petr Fiala, der noch nie so verärgert gewesen sei: „Er hat den Stab über Morawiecki und Orbán gebrochen.“ Fiala hat sich auch mit einigen Tagen Abstand noch nicht wieder beruhigt. Als er am Dienstag in Prag den Vorsitzenden der derzeit in der Slowakei amtierenden Expertenregierung, Ludovít Ódor, empfing, wiederholte er seine Vorwürfe an die Polen und Ungarn. Deren Nein war seiner Auffassung nach „verantwortungslos“. Der EU-Migrationspakt biete eine Wende in der Migrations- und Asylpolitik.
Sorgenvoller Blick nach Polen
An solchen Zerwürfnissen kann Visegrád zerbrechen. Tschechien hat gerade turnusgemäß den Vorsitz des Bündnisses übernommen. In Prag ist davon die Rede, dass man Visegrád „auf Sparflamme“ setze. Das übliche Treffen der Regierungschefs hat Fiala erst für den Spätherbst angesetzt, nach den Parlamentswahlen in Polen. Fiala ist neben seiner Funktion als tschechischer Premier auch Vorsitzender der Bürgerpartei ODS. Die hat unter seiner Führung immer an der Seite der polnischen PiS-Regierung gestanden. Beide Parteien gehören auch im Europaparlament zu einer Fraktion.
Doch die ODS begrüßt längst nicht mehr alles, was die Parteifreunde im nördlichen Nachbarland machen. In Prag sieht man wie in Brüssel mit Sorgen, wie der Rechtsstaat in Polen ausgehöhlt wird, die Justiz und die öffentlich-rechtlichen Medien des Landes auf PiS-Kurs gebracht werden. Das alles wird aber eher in Hinterzimmern besprochen. Nach außen hin zeigt man sich völlig einig in der klaren Haltung zum Ukraine-Feldzug Putins. Die übertüncht – bislang – alle offenkundigen Probleme.
Ist das Visegrád-Format überholt?
Mit Ungarn geht fast gar nichts mehr. Für Orbáns ungebrochene Solidarität mit Moskau – und auch der Blockade des Nato-Beitritt Schwedens – hat niemand in Prag auch nur einen Hauch von Verständnis. Orbán ist der Hauptgrund dafür, dass Tschechiens neuer Präsident Petr Pavel das Visegrád-Format für „überholt“ hält. Die Tschechen denken deshalb auch in andere Richtungen. Sie wollen unter anderem verstärkt mit Österreich kooperieren, beispielsweise bei einer gemeinsamen Reise der Außenminister Tschechiens, der Slowakei und Österreichs Mitte Juli nach Nordmazedonien.
In erster Linie aber soll die Zusammenarbeit mit der Slowakei gestärkt werden. Beide Länder wollen gemeinsam Rüstungsgüter in Schweden kaufen. Die Tschechen helfen, den Luftraum über der Slowakei zu schützen. „Die tschechisch-slowakischen Beziehungen sind stark und unsere Zusammenarbeit ist unerschütterlich, unabhängig vom Austausch politischer Vertretungen“, sagte Präsident Pavel am Dienstag.
Neuwahlen in der Slowakei
Doch das muss nicht so bleiben. Ende September wählen die Slowaken ein neues Parlament. Dort könnte dem in mafiöse Strukturen verwickelten Ex-Premier Robert Fico ein Comeback gelingen. Das wäre ein zweiter schwerer Rückschlag nach der Erklärung von Präsidentin Zuzana Čaputová, nicht mehr die Kraft für eine zweite Amtszeit zu haben. Fico, der die Präsidentin ein „US-Flittchen“ nannte und ihre ganze Familie attackierte, ist neuerdings ein Fan von Ungarns Orbán. Keine guten Aussichten für den Fortbestand der tschechisch-slowakischen Freundschaft und schon gar nicht der Visegrád-Gruppe, sind sich Beobachter einig.