Das tschechische Abgeordnetenhaus hat die von der Regierung geforderte Verlängerung des Corona-Notstands abgelehnt. Damit wären die meisten Corona-Maßnahmen in Tschechien ab Montag trotz hoher Infektionszahlen außer Kraft. Deutschland hat Tschechien derweil als Corona-Mutationsgebiet erklärt und führt ab Sonntag stationäre Grenzkontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze ein.
In Tschechien ist ein Großteil der Corona-Maßnahmen – vor allem jene, die massiv in die individuellen Freiheitsrechte eingreifen – an den nationalen Notstand gebunden. Diesen wollte die Regierungskoalition aus ANO und Sozialdemokraten erneut um weitere 30 Tage verlängern. Im Parlament, das der Verlängerung zustimmen muss, fand sich dafür diesmal aber keine Mehrheit. Die Kommunisten, die Babišs Minderheitsregierung tolerieren und bisher jede Verlängerung unterstützten, hatten bereits im Vorfeld deutlich gemacht, dass sie einer erneuten Verlängerung nicht zustimmen würden. Die Regierung hatte die Bedingungen der Kommunisten, unter denen sie der letzten Notstandsverlängerung zugestimmt hatten – die Öffnung der Ski-Gebiete und teilweise der Schulen – nicht erfüllt. Verhandlungen mit weiteren Oppositionsparteien scheiterten im Laufe des Donnerstags.
Schließlich stimmte die Opposition am Donnerstagabend geschlossen gegen die Verlängerung des Notstands, der damit in der Nacht von Sonntag auf Montag – trotz hoher Infektionszahlen – endet. Ohne diesen kann die Regierung keine landesweiten Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens mehr aufrechterhalten. Die Schließung von Geschäften und Dienstleistern (z.B. Friseure, Fitnessstudios, usw.) sowie Kultureinrichtungen, die Einschränkung des Versammlungsrechts oder die Verhängung einer Ausgangssperre übersteigen dann die rechtlichen Vollmachten der Regierung und wären verfassungswidrig, wie dies letztes Jahr ein Prager Gericht feststellte. Daneben wäre aber auch der Einsatz von Feuerwehr und Militär im Gesundheitswesen nicht mehr möglich, Medizinstudenten können nicht mehr zur Aushilfe in Krankenhäusern verpflichtet werden. Auch die am Freitag in Kraft getretene Abriegelung der drei Kreise Eger (Cheb) oder Trautenau (Trutnov), in denen die 7-Tage-Inzidenz bei über 1.100 liegt, wäre ohne Notstand wohl nicht weiter durchsetzbar.
Der nationale Notstand gilt in Tschechien seit 5. Oktober und wurde jeden Monat vom Parlament verlängert. Während der ersten Welle der Corona-Pandemie galt der Notstand vom 13. März bis zum 17. Mai 2020.
Regierung warnt vor Katastrophe
Bei der sich über viele Stunden hinstreckenden Parlamentsdebatte warnte Gesundheitsminister Jan Blatný (parteilos, für ANO) vor einem Katastrophenszenario: Innerhalb von zwei Wochen könne das Gesundheitssystem an seine Grenzen gelangen und sich landesweit eine Situation ergeben wie derzeit im Karlsbader oder Königgrätzer Bezirk. Dort können die Krankenhäuser keine weiteren Patienten mehr aufnehmen. „Das wird uns alle noch weit mehr kosten als nur Geld. Wenn wir uns nicht auf den Notstand einigen können, tragen wir alle die Verantwortung dafür“, sagte Blatný. Premierminister Andrej Babiš (ANO), der bis zuletzt nach einem Kompromiss strebte und auch eine Verlängerung um zunächst 14 Tage anbot, twitterte nach der Entscheidung des Parlaments: „Die Situation mit Covid ist ernst und die Opposition muss es auf ihre Kappe nehmen, wenn sie sich noch weiter verschlechtert. Sie hat den Willen zu Verhandlungen vorgetäuscht und am Ende die Gesundheit und das Leben der Bürger gegen die Politik und den Vorwahlkampf eingetauscht. Das begreife ich nicht. Zusammen mit den Landeshauptmännern wird die Regierung morgen einen Weg suchen, wie wir die Menschen schützen können.“
Die Oppositionsparteien waren auf keines der Angebote von Premier Babiš eingegangen. „Die Art und Weise, wie die Regierung auftritt, zeigt, dass sie die Situation nicht im Griff hat. Wieder wird nichts passieren, in drei Wochen werden wir wieder in der gleichen Situation und die Maßnahmen genauso wirkungslos sein“, erklärte Petr Fiala, Vorsitzender der Bürgerdemokraten (ODS). Die Opposition kritisiert vor allem das chaotische Krisenmanagement der Regierung und des Premierministers. „Das Einzige, was unserem Land wirklich helfen würde, die Pandemie zu bewältigen, wäre, wenn der demokratisch gewählte, aber völlig chaotische Premierminister in den Hintergrund tritt“, sagte Olga Richterová, Vize-Parteichefin der Piraten.
Die Regierung muss nun alternative Wege finden, wie sie auch weiterhin Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufrechterhalten kann. Die Vertreter mehrerer Regionen kündigten an, im Falle einer Nicht-Verlängerung des Notstands in ihren Bezirken den Katastrophenfall auszurufen, und erklärten sich bereit, das weitere Vorgehen am Freitag mit der Regierung abzustimmen. Voraussichtlich geht die Beschließung von Corona-Maßnahmen zunächst in den Kompetenzbereich des Gesundheitsministeriums über. So können auch weiterhin auf Grundlage des Gesetzes zum Schutze der öffentlichen Gesundheit Beschränkungen beim Betrieb von Schulen, im Kulturbereich oder beim Reisen beschlossen werden. Innenminister Jan Hamáček (ČSSD) hatte ins Spiel gebracht, einfach einen neuen Notstand auszurufen. Hier ist aber noch unklar, inwiefern das mit der Verfassung vereinbar ist.
De-facto-Grenzschließung ab Sonntag
Tschechien kämpft weiter mit hohen Corona-Zahlen, die „britische“ Mutation des Coronavirus breitet sich rasant aus. Landesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz 481,8, in den Kreisen Eger (Cheb), Falkenau (Sokolov) – die an Deutschland grenzen – und Trautenau (Trutnov) liegt sie über 1.100. Etwa 60 Prozent der Fälle gehen dort auf die britische Variante zurück. Deutschland hat Tschechien (und daneben auch Tirol) daher als Mutationsgebiet eingestuft und führt ab Sonntag vorübergehend stationäre Grenzkontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze ein. Die Erklärung zum Mutationsgebiet erfolgte bereits vor der Entscheidung des Parlaments am Donnerstagabend, den nationalen Notstand nicht zu verlängern. Laut einem Sprecher des deutschen Innenministeriums werde die Bundespolizei dafür auch auf die Schleierfahndung zurückgreifen. Aus Mutationsgebieten dürfen nur Deutsche und Ausländer mit Wohnsitz in Deutschland einreisen. Ausnahmen gibt es nur noch für Grenzpendler, die in der kritischen Infrastruktur arbeiten, etwa im Gesundheitswesen.
Seit Beginn der Pandemie haben sich in Tschechien über eine Million Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Nach einem leichten Rückgang der Corona-Neuinfektionen ab Mitte Januar steigen diese nun wieder an. Am 9. Februar meldeten die Behörden zum ersten Mal seit Mitte Januar wieder über 10.000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Aktuell werden knapp 6.000 Menschen mit einer COVID-19-Erkrankung stationär behandelt, die Zahl der im Zusammenhang mit dem Coronavirus Verstorbenen hat fast 18.000 erreicht.