Im 30. Jahr nach der friedlichen Revolution schien der Ost-West-Gegensatz größer denn je. In diesem Licht betrachtet lohnt ein Vergleich des ostdeutsch-tschechischen Verhältnisses, meint unser Kommentator Luboš Palata.
Leipzig als Ort der diesjährigen Jahreskonferenz des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums war eine glänzende Wahl. Nicht nur, um daran zu erinnern, dass der Fall der Berliner Mauer kein Zufall war, sondern eine Folge von Monate dauernden Demonstrationen mit vielen Hunderttausend Ostdeutschen, die für demokratische Freiheiten kämpften. Nicht nur wegen der Erinnerung daran, dass die Demonstrationen ihre Wurzeln im christlichen Milieu Leipzigs hatten. Auch nicht nur, weil Leipzig als Messestadt, in der sich der Osten mit dem Westen traf, wohl die offenste Stadt der ansonsten in sich geschlossenen DDR war. Leipzig erinnerte die tschechischen Konferenzteilnehmer auch daran wie nahe sich die Schicksale der Ostdeutschen und Tschechen bis heute sind. Das war schon während des Sozialismus so, als sich die relativ weit entwickelten Volkswirtschaften der DDR und der Tschechoslowakei vom Rest des sozialistischen Blocks unterschieden.
Sowohl Ostdeutschland, als auch die sozialistische Tschechoslowakei wurden von der Sowjetunion und weiteren, viel rückständigeren Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausgesaugt, durch die Forderung, Schwerindustrie aufzubauen, zerstört, und mit gewaltigen Umweltschäden belastet, welche die extensive Kohleförderung, die Eisenhütten und Chemiebetriebe verursachten. Dennoch schafften es die DDR und die Tschechoslowakei bis zum Ende des Sozialismus, ein relativ anständiges Lebensniveau zu erhalten. Der Unterschied bestand aber darin, dass die Ostdeutschen ständig den westdeutschen Spiegel vorgehalten bekamen. Die Tschechoslowakei hatte das nicht, so dass der Emigrationsdruck nie so hoch war wie in der DDR. Aber auch die Tschechen bekamen den Niedergang zu spüren, den der Sozialismus und die Planwirtschaft brachten, und zwar im Vergleich zur Zeit der Ersten Republik zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Obwohl das sozialistische Regime 1968 und im Sommer 1989 den Tschechen und Slowaken faktisch die Reisefreiheit ermöglichte, verließen nur relativ wenig Menschen die sozialistische Tschechoslowakei. Im Sommer 1989 war es umso paradoxer, dass das, was sich die Ostdeutschen durch das Übersteigen des Zauns zu den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau, durch die Flucht über Ungarn nach Österreich, erzwingen mussten, ein durchschnittlicher Tscheche durch den Kauf einer bestimmten Menge westlicher Währung bei den allgegenwärtigen Geldwechslern und durch Besitz eines Passes erreichte.
Die DDRler haben Westdeutschland, die Tschechen Brüssel
Die 30 Jahre, die seit dem Fall des Sozialismus vergangen sind, sind für Tschechen wie Ostdeutsche 30 Jahre enttäuschter Hoffnungen. Jene der Ostdeutschen, dass sie durch die Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland schnell das Niveau des früheren Westdeutschlands erreichen und jene der Tschechen, dass sie durch die Trennung von der rückständigen Slowakei und den Beitritt zur Europäischen Union schnell das Niveau der entwickelten westeuropäischen Staaten erreichen.
Während ein Teil der Ostdeutschen den immer noch markanten Unterschied im Lebensniveau auf die Übernahme der DDR durch die BRD und den Niedergang der ostdeutschen Industrie auf die vom Westen aufgezwungene Privatisierung schiebt, haben die Tschechen ein ähnliches Syndrom mit der Europäischen Union und westlichen Investoren, die aus dem Land ihre Gewinne in Form hoher Dividenden aus der günstigen Privatisierung der tschechischen Wirtschaft abziehen.
Beide Länder haben außerdem einen ähnlichen demographischen Schock hinter sich. In Tschechien wurden die böhmischen und mährischen Deutschen vertrieben und zuvor die wirtschaftlich und intellektuell überaus einflussreichen böhmischen Juden von den Nationalsozialisten umgebracht. Diese zwei Narben sind in Tschechien auch mehr als 70 Jahre nach dem Kriegsende und der Vertreibung der Deutschen nicht verheilt, was jeder sieht, der heute durch das entvölkerte und an vielen Stellen immer noch zerstörte böhmische Grenzgebiet – oder wenn Sie so wollen, die Sudeten – fährt, die wirtschaftlich einfach nicht vom Fleck kommen wollen.
Ähnlich ist das in den neuen Bundesländern, wo die starke Entvölkerung vor allem eine Frage der letzten 30 Jahre ist, als trotz der Wiedervereinigung mehrere Millionen Einwohner in die alten und reichen Bundesländer Westdeutschlands abwanderten. Paradox ist, dass sich auf beiden Seiten der gemeinsamen tschechisch-ostdeutschen Grenze ein Klima der Frustration gebildet hat, durch das xenophobe, antidemokratische und postsozialistische politische Kräfte an Einfluss gewinnen. Auf der deutschen Seite die Alternative für Deutschland (AfD) und die postsozialistische Linke, auf der tschechischen Seite die Kommunisten und die migrationsfeindliche Partei Freiheit und direkte Demokratie (SPD).
Die Demokratie hört nicht auf, sie dauert an
Trotzdem ist weder in der früheren DDR, noch in der Tschechischen Republik 30 Jahre nach dem November 1989 nichts verloren. Beide Teile des früheren Ostblocks unterscheiden sich von ihren ungarischen und polnischen Weggefährten vor allem durch den Rechtsstaat, unabhängige Gerichte, freie öffentlich-rechtliche Medien und auch durch ein sehr anständiges wirtschaftliches Lebensniveau, im Fall der Ostdeutschen allerdings auf einem weit höheren Niveau als ihn heute die Tschechen erreichen.
Wie in Leipzig oder Chemnitz finden wir auch in tschechischen Städten wie Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem) oder Reichenberg (Liberec) immer noch Spuren des Sozialismus, der Vertreibung und des Weggangs eines Teils der Bevölkerung. Aber wir finden auch Orte, die aufgeblüht sind, die ihren einstigen Glanz zurückerhalten haben oder wo neue bewundernswerte Projekte und Gebäude entstanden sind.
Wir müssen nicht über die vergangenen 30 Jahre begeistert sein, aber wir können Hoffnung haben, dass die weiteren Jahrzehnte besser werden. Für Tschechen und für die Ostdeutschen, zwei der Völker Mitteleuropas, die sich am nächsten sind, dies aber voneinander immer noch nicht wissen.
Der Autor ist Redakteur der Tageszeitung Deník.