Es war eine Überraschung, als die Staaten der Europäischen Union der Ukraine und Moldawien Ende Juni den Kandidatenstatus verliehen. Es schien, als ob sich in der Europäischen Union angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine etwas bewegt. Lange Zeit tat sich die EU jedoch schwer mit Erweiterungen. Jetzt könnte es einen Königsweg geben.
Eine Erweiterung der Union war jahrelang kein Thema. Sicher, vom Kandidatenstatus bis zum Beitritt können noch Jahrzehnte vergehen. Die Türkei, die schon seit Jahren auf der Stelle tritt, kann ein Lied davon singen. Wie schon der Außenminister des der EU vorsitzenden Tschechiens, Jan Lipavský, sagte, bedeutet der Kandidatenstatus für die Ukraine vor allem eine politische Geste, mit der die Opfer anerkannt werden, welche die Ukraine für ihre europäische Zukunft erbracht hat. „Das sind wir den Ukrainern schuldig, die auch für unsere Werte, Souveränität und territoriale Integrität kämpfen“, erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron, der an der Entscheidung für die Ukraine einen riesigen persönlichen Anteil hatte. Im Windschatten der Ukraine erlangte auch Moldawien den Kandidatenstatus, was aber angesichts der Vielzahl rumänischer Pässe unter den Moldawiern bedeutet, dass sie de facto bereits Einwohner der Union sind.
Sehr unzufrieden waren im Juni die Balkanstaaten, vor allem Albanien. Das Land erfüllte auch nach Einschätzung der Europäischen Kommission alle Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Europäischen Union. Weil aber die Verhandlungen Albaniens mit den nordmazedonischen verbunden sind, musste Albanien auf Skopje warten. Nordmazedonien blieb nach Jahren des Tauziehens mit Griechenland um den offiziellen Staatsnamen in einer Sackgasse stecken, diesmal mit Bulgarien. Dabei geht es zum einen für diese völkerrechtlich komplizierte Region um die Frage, ob Mazedonier und Bulgaren zwei verschiedene Völker sind oder die Mazedonier nur ein verwandter Zweig der Bulgaren, wie sich das Sofia denkt. Dort hält man mazedonisch auch nur für einen Dialekt des Bulgarischen.
Letztendlich ist es den französischen Diplomaten gelungen, den Konflikt zu lösen, auch wenn der definitive Kompromiss erst im Juli ausgehandelt werden konnte, also während der tschechischen Ratspräsidentschaft. Und so posierte nicht Macron, sondern der tschechische Premier Petr Fiala mit dem mazedonischen und albanischen Premier vor den Fotografen.
Beide erwähnte Ereignisse sind an und für sich positiv, ändern aber nichts an der Tatsache, dass eine Erweiterung der Europäischen Union nicht in Sicht ist. Dabei trat mit Kroatien das letzte Land bereits Mitte 2013 der Union bei, also vor neun Jahren.
Ungarn als Schreckgespenst
Vor allem in Westeuropa herrscht nach der Erfahrung mit den Regierungen in Polen und Ungarn, die die Einhaltung des Rechtsstaates und demokratischer Regierungsprinzipien ablehnen, gegenüber einer weiteren Osterweiterung Desillusion. Die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union ist mit 27 Mitgliedern und unter Wahrung des Vetorechts eines einzigen Mitgliedsstaates in Frage gestellt. Ganz abgesehen von den Ausgaben, die auf die reichen EU-Länder zur Unterstützung des armen Ostens der Union zukommen.
Nach der Verabschiedung des Kandidatenstatus für die Ukraine begann allerdings die Suche nach einem Weg, wie eine Erweiterung bei anhaltender Funktionsfähigkeit in Einklang gebracht werden kann. Der Ansatz kam aus Deutschland und wird von weiteren „alten“ EU-Ländern unterstützt.
Berlin bietet dem Osten Europas, der traditionell eine größt- und schnellstmögliche Erweiterung nach Osten und Süden auf den Westbalkan fordert, einen politischen Handel. Für den Fall, dass das Vetorecht der Mitgliedsstaaten bei der Abstimmung im Europäischen Rat abgeschafft oder eingeschränkt wird, sind Länder wie Deutschland und Frankreich bereit, einer relativ schnellen Erweiterung zum Beispiel um Serbien oder Montenegro zuzustimmen. Dieser Zusammenhang von Erweiterung und Einschränkung bzw. Abschaffung des Vetorechts war auch das Ergebnis eines jüngsten informellen Treffens der Minister für europäische Angelegenheiten, wie der tschechische Minister Mikuláš Bek einräumte.
Deutschland will Reform und Erweiterung
Sehr vehement wird diese Debatte von Deutschland geführt. „Wenn wir in der Welt der miteinander konkurrierenden Weltmächte weiterhin gehört werden wollen, können wir uns zum Beispiel in der Außenpolitik ein nationales Veto einfach nicht mehr leisten“, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz. Und die deutsche Ministerin für Europa und Klima, Anna Lührmann, stellte zum Thema Vetorecht und Erweiterung klar: „Diese zwei Fragen gehören unmittelbar zusammen. Eine Erweiterung der Europäischen Union wirft die Frage auf, welche Institutionen wir dafür brauchen“, so Lührmann.
Deshalb scheint es, dass eine größere Erweiterung der Europäischen Union auf den Westbalkan oder weiter in den Osten Europas nicht eher kommt, bis die Entscheidungsprozesse in der Union effektiver gestaltet sind, also bis eine grundsätzliche Reform abgeschlossen ist. Das ist aber nichts Neues. Der Osterweiterung von 2004 ging auch die Einführung des Euro und der Versuch einer europäischen Verfassung voraus, aus der am Ende der Vertrag von Lissabon wurde. So etwas erwartet uns offenbar auch jetzt. Wie schnell es dazu kommt, lässt sich aber heute schwer abschätzen.
Der Autor ist Europa-Redakteur der Tageszeitung Deník.