Erstmals wird in Prag eine Retrospektive des Schweizer Bildhauers und Malers Alberto Giacometti gezeigt. Darunter sind auch viele selten ausgestellte Objekte.
Das Werk von Alberto Giacometti (1901–1966), einem der bekanntesten und gleichzeitig einem der heutzutage weltweit teuersten Gegenwartskünstler des 20. Jahrhunderts, kann man endlich auch hierzulande aus unmittelbarer Nähe bestaunen. Denn die Nationalgalerie Prag und die Pariser Fondation Giacometti widmete der Schweizer Koryphäe die erste selbständige Ausstellung in Tschechien. Zwar wurden bereits einige von Giacomettis Objekten in der Regionalgalerie Reichenberg (Oblastní galerie Liberec) gezeigt, doch das war keine Einzelausstellung.
In der aktuellen Prager Schau werden unter dem einfachen Titel Giacometti im ersten Stock des funktionalistischen Prager Messepalastes mehr als 170 Kunstobjekte wie Statuen, Gemälde und Zeichnungen gezeigt. Innerhalb von neun chronologisch und thematisch geordneten Zyklen wird Giacomettis künstlerischer Werdegang verfolgt, der sich von den 1920ern bis in die 1960er Jahre erstreckte. „Es handelt sich um ein absolut einzigartiges Ausstellungsprojekt, wobei alle Werke, die man hier sehen kann, überhaupt zum ersten Mal gemeinsam präsentiert werden“, betont Julia Tatiana Bailey, die Ausstellungskuratorin der Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst in der Nationalgalerie Prag. Sie fügt hinzu, dass es sich darüber hinaus um ein besonderes Ereignis handle, das eigens für die tschechischen Besucher entworfen wurde. Dass in Tschechien Giacomettis Werk nie zuvor dermaßen komplex vorgestellt wurde, überraschte sie angesichts der Berühmtheit des Künstlers. Dank der Zusammenarbeit mit der französischen Giacometti-Stiftung umfasst die Prager Ausstellung über einhundert Statuen, darunter auch kostbare Gipsoriginale. Parallel dazu wurden auch Dutzende der wichtigsten Zeichnungen und Gemälde zusammengetragen, die die technische Meisterschaft ihres Schöpfers bezeugen.
Vom Selbstportrait zur Moderne
Die Präsentation eröffnen Portraits, die Giacometti in der zweiten Dekade des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluss des Impressionismus und Pointillismus geschaffen hat. Dabei handelt es sich um Stillleben, die für ihn in der Frühphase seines Schaffens von Bedeutung waren. Weiterhin hängen hier etliche Selbstbildnisse, wie das Selbstportrait von 1917, oder Portraits seiner Familienmitglieder und Freunde. Dabei standen ihm häufig sein Bruder Diego und seine Schwester Ottilie Modell.
Zu den ersten Arbeiten von Giacometti, mit denen dieser sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Paris einen Namen machte, wohin er 1922 aus der Schweiz übersiedelte, gehören jedoch seine Statuen. Besonders bekannt sind die totemartigen Figuren Das Paar (1926) und die Löffel-Frau (1927), die man auch in Prag sehen kann. Sie weisen auf einen direkten Einfluss der afrikanischen und ozeanischen Kunst in Giacomettis Schaffen hin. Bald darauf begann der Künstler mit Serien von Frauenstatuen mit platten Köpfen, die ihm den Weg zu verschiedenen Galeristen eröffneten. Von nun an wandte er sich definitiv vom Akademismus ab und der totemischen oder sogar magischen Darstellung von Menschenfiguren zu.
Einen Meilenstein in seinem künstlerischen Leben stellt seine rätselhafte Hängende Kugel (1930) dar, die er ebenso wie Die Nase (1949) in einen Käfig platzierte. Das Objekt der Hängenden Kugel beeindruckte Salvador Dalí und André Breton dermaßen, dass sie den innovativen Bildhauer in ihre Surrealistengruppe aufnahmen. Das brachte ihm weitere Kontakte sowie künstlerische Impulse. Seine Vier Frauen auf einem Sockel (1950) zeigen die charakteristischen Züge von Giacometti: Sie erinnern an grobe Bleiabgüsse, die man einst zu Weihnachten zu Hause anfertigte. Eine größere Ähnlichkeit mit einer Frauenfigur hat seine Stehende (1948/49), eine Frauenskulptur, die zwar gewöhnliche Körpermaße besitzt, aber doch deutlich in die Vertikale gezogen ist.
Den größten Erfolg erlangte Giacometti in der Nachkriegszeit, als er sich dem menschlichen Körper zuwandte, wobei er ihn nicht realistisch, sondern durch den eigenen Künstlerblick abbildete. Unter dieser ganz persönlichen Perspektive entstanden seine fadendünnen, mal großen, mal sehr kleinen Figuren, die Themen wie Zerbrechlichkeit oder Einsamkeit reflektieren.
Nach seinen expressiven Männer- und Frauenbüsten aus Bronze, erreicht man den Ausstellungshöhepunkt, Giacomettis ikonischen Schreitenden Mann, den er 1959 ursprünglich für einen New Yorker Wolkenkratzer schuf. Da ihm dafür schließlich die Umgebung unpassend vorkam, behielt er die Staue bei sich. Die Prager Premiere schließt auch Plastiken ein, die Giacomettis lebenslängliche Muse und spätere Ehefrau Annette Arm darstellen. Zu den wohl kostbarsten Ausstellungsobjekten zählen für die Kuratoren die Frauen von Venedig, die der Bildhauer zum ersten Mal 1956 auf der Biennale in Venedig vorstellte. Die sechs hageren, länglichen Gestalten wurden weltweit bislang nur dreimal gezeigt – in Venedig, Bilbao und London. Vor allem aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit werden sie nach der Prager Ausstellung wieder zurück ins Depot gebracht. Ein Grund mehr, um sich in die Prager Giacometti-Ausstellung zu begeben.
Alberto Giacometti (1901-1966) stammte aus dem kleinen Dorf Stampa im italienischen Teil der Schweiz im Bergell und wuchs in einer Künstlerfamilie auf. Als 21-Jähriger kam er nach Paris, wo er an der Kunstakademie studierte. Auf den Reisen mit seinem Vater Giovanni Giacometti, einem berühmten und geschätzten neoimpressionistischen Maler, lernte er italienische und ägyptische Kunst kennen. Zu Beginn der 1930er Jahre schloss er sich in Paris den Surrealisten an, die er 1935 wieder verließ. Ein Jahr später wurde sein Werk erstmals im Museum of Modern Art (MoMA) in New York präsentiert. Er freundete sich mit Picasso, Beckett und Sartre an. Seine Werke wurden in den 1950er Jahren weltweit ausgestellt und mit vielen Preisen geehrt. Giacometti starb unerwartet an einer Perikarditis als Folge einer chronischen Bronchitis 1966 in der Schweiz.
Giacometti, Veletržní palác (Messepalast), Dukelských hrdinů 47, Praha 7, www.ngprague.cz,
bis 1. 12. 2019
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