Seit in Tschechien eine Mundschutz-Pflicht gilt, stehen die heimischen Nähmaschinen nicht mehr still. Auch die deutsche Minderheit beteiligte sich an Nähaktionen.
Ist die Zeit stehengeblieben? Es ist Dienstag, der 10. März. Ich begebe mich in der großen Pause um 9.40 Uhr in den Lehrerraum, wo ich jeden Tag mit meinen Kolleginnen und Kollegen einen Kaffee trinke und wir 20 Minuten zusammen plaudern. Ungestört, gemütlich, im engen Kreis. Heute ist der Kreis etwas größer.
„Meine Freundin, die beim tschechischen Fernsehen arbeitet, hat mir gerade geschrieben, dass die Schulen geschlossen werden.“ „Quatsch! So etwas passiert hier nie, warten wir ab.“
Um zwölf Uhr wurden die Schulen in Tschechien tatsächlich geschlossen, am Mittwoch ging man nicht mehr hin. Zumindest die Schülerinnen und Schüler nicht. Die Lehrer kommen immer noch. Na gut, genießen wir die Woche, die uns die Regierung gewährleistet hat. Notstand. Herrlich. Ferien. Einfach so geschenkt.
Im Internet bekommt man nichts mehr
Mittwoch, den 11. März und Donnerstag, den 12. März, verbringe ich noch in der Schule.
Ich schreibe E-Mails, räume auf. Wir warten ab. Ein Wochenende, nach dem man nicht zur Arbeit muss – wunderbar! Aus den Nachrichten hört man, dass die Regierung überlegt, das ganze Land in die Quarantäne zu stellen. Ich besuche meine Freundin noch bei ihr zu Hause. „Was meinst du? Wird es die Quarantäne geben?“ „Ach, ich zweifle daran, warten wir ab.“
Ab Montag, dem 16. März, ist das Land in der Quarantäne, die am Abend zuvor um 23 Uhr verkündet wurde. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Schule, um meine Lehrbücher zu holen, habe mindestens ein Tuch um das Gesicht gewickelt. Unterwegs lachen mich manche aus. Der Direktor im Lehrerraum fragt, ob ich erkältet sei. Meine Antwort: „Nein, bin nur vorsichtig.“ Er lacht mich aus.
Ab Dienstag, dem 17. März, ist es Pflicht, in Tschechien einen Mundschutz zu tragen und
der Direktor schreibt, dass wir uns in der Schule am besten möglichst wenig aufhalten sollen. Aha.
Es gibt jedoch in keiner Apotheke mehr einen Mundschutz. Tücher aus Nanofasern sind ausverkauft, sogar im Internet bekommt man nichts mehr. Keinen Mundschutz, keine Desinfektion, bald fehlen auch die Einweghandschuhe. Und Mehl. Ein seltsamer Erhaltungstrieb. Ich frage mich, wie viele wohl Brot backen können, habe aber offensichtlich keine Ahnung, zu was die Tschechen fähig sind. Wessen sogar ich mächtig bin, wenn ich aufgeregt bin.
Aufgeregt und sauer auf unsere Regierung, die uns vorschreibt, etwas zu tragen, was wir nirgendwo bekommen können. Wir warten nicht mehr ab. „Hana, ich habe drei Nähmaschinen, wir können uns den Mundschutz selber nähen.“ „Du, ich habe nie in meinem Leben genäht. Ok, ein paar Mal, aber es ist 20 Jahre her.“ Noch am Dienstag haben wir den Mundschutz für unsere Familienmitglieder fertig. Genäht haben wir nach einer Anleitung, die bei Facebook massenhaft geteilt wurde. Bald gibt es auch andere Schnitte, andere Anleitungen. Bald näht die Hälfte der Nation, bietet die Produkte in den sozialen Netzwerken kostenlos an, Gruppen werden gebildet, die den Mundschutz sammeln und verteilen. Ich schicke meine Erzeugnisse meinen Eltern und meiner Schwester nach Großbritannien. Am darauffolgenden Tag verkündet die Tschechische Post, dass sie den Mundschutz kostenlos versendet. Pech gehabt!
Es gibt noch immer nicht genug
Ich nähe weiter, tief frustriert, weil ich wahnsinnig langsam bin. Irgendwann beginnt man zu betonen, dass vor allem die ältere Generation gefährdet sei. Sie sollen das Haus am besten nicht verlassen. Es werden Öffnungszeiten extra für Senioren eingeführt. Ich rufe also zuerst meine Freundinnen in Ostrau (Ostrava) an, wo meine Mutter wohnt, und organisiere Einkäufe für sie. In Opava, dem Wohnort meines Vaters, kenne ich zum Glück jemanden aus der deutschen Minderheit: Ellen Švábová, die so nett ist und meinem Vater etwas aus dem Supermarkt holt. Dann fällt mir ein, noch Frau Opletalová im Begegnungszentrum anzurufen, die immer bestens über unsere Mitglieder informiert ist. Ich frage, ob vielleicht jemand von unseren älteren Mitgliedern Hilfe bräuchte.
Es meldet sich Frau Kheilová. Sie ist über neunzig Jahre alt unterrichtet normalerweise noch Deutsch in einem unserer Kurse im Begegnungszentrum. Einmal in der Woche erledige ich für sie kleine Einkäufe. Wir profitieren beide sehr davon, denn sie wohnt am anderen Ende der Stadt. Die Fahrt dorthin bedeutet für mich ein gutes Training in der Zeit des Zuhausehockens. Auf jeden Fall finde ich gut, dass sich nur eine Person gemeldet hat. So viel Training würden meine Beine nicht ertragen. Beim Nähen tritt man ja nur mit einem Bein, man belastet nur eine Seite des Körpers. Aus der sportlichen Sicht also nutzlos.
Nein, stehen geblieben ist die Zeit nicht. Sie vergeht in der Quarantäne wie im Flug. Man denkt
an seine Nächsten, an die Freunde im Ausland. Vor allem auch in den Ländern, in denen
die Gesundheitspflege einen niedrigen Standard hat. Man versucht, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Man arbeitet. Und man näht. Denn es gibt immer noch nicht genug.