Wenn Museen geschlossen und Stadtführungen nicht möglich sind, muss man die Geschichte eben auf eigene Faust erkunden. Unser Landesblogger hat sich deswegen auf eine Spurensuche über die Vergangenheit in seiner Prager Nachbarschaft in Vinohrady begeben.
Kirchen, Könige und Kopfsteinpflaster: Prag ist wie ein kurzer Blick in die Vergangenheit. Doch gerade ist es schwierig, mehr über die Geschichte der Stadt zu erfahren. Museen und Gedenkstätten haben aufgrund der Corona-Maßnahmen geschlossen. Deswegen beschloss ich, mehr darüber herauszufinden, was ohnehin direkt um die Ecke liegt: meine Nachbarschaft. Ich war erstaunt, was sich auf wenigen hundert Metern alles für Spuren aus dem vergangenen Jahrhundert finden lassen.
Die Route des Spaziergangs durch den südlichen Zipfel von Vinohrady. Foto: mapy.cz
Ich wohne im südlichen Zipfel von Vinohrady. Der Prager Stadtteil ist eigentlich ziemlich schick, wie ich finde. Boutiquen und Altbauten reihen sich an der Vinohradská an Feinkostläden und Vinotheken. Dort, wo ich wohne, im Nusle-Tal, ist es nicht mehr ganz so schick: Eine 40 Meter hohe Beton-Brücke überspannt das Tal und auf Höhe meines Fensters rattern Güterwaggons über die Bahn-Trasse.
Drei goldene Steine vor dem Eckhaus
Ich musste nicht weit gehen, um auf die erste Spur der Vergangenheit meiner Nachbarschaft zu stoßen. Am Eingang des Nachbarhauses hängt eine schwarze Tafel, die an Karel Pavlík erinnert. Pavlík war Kapitän der tschechoslowakischen Armee, als diese 1939 von Nazideutschland überfallen wurde. Nach der Besetzung Prags schloss er sich einer der wenigen Widerstandsgruppen an, der „Obrana národa“ (Verteidigung der Nation). Laut der Tafel half er bei der Organisation der „Mission Anthropoid“, bei der Angehörige der tschechoslowakischen Exilarmee 1942 den stellvertretenden NS-Protektor für Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, in Prag töteten. Pavlík half dabei, die beiden für das Attentat verantwortlichen Unteroffiziere Jan Kubiš und Jozef Gabčík ins Land zu schleusen, da beide aus London heimlich eingeflogen werden mussten. Die Operation Anthropoid gilt als das einzige erfolgreiche Attentat auf Personen aus der Führungsriege der Nazis.
Erst seit knapp zwei Jahren erinnert die Tafel an den ehemaligen Bewohner des Hauses im Widerstand, Karel Pavlík. Foto: Mathis Brinkmann
Ich folgte der Straße Na Folimance entlang der Bahn-Trasse, die genau vor meinem Fenster entlangführt. Ich bog links ab in die Rejsková. Es ist genau der Weg, auf den ich mich auch mache, wenn ich das Homeoffice verlasse und in Richtung der LandesEcho-Redaktion laufe (die ich in den nächsten Monaten unterstütze). Hier stehen – wie so oft in Prag – leicht heruntergekommene Häuser, an denen die Farbe schon abzublättern beginnt, direkt neben frisch renovierten Bauten, deren Fassaden in gelb, rot und rosa erstrahlen. Es ist der Kontrast, der Straßen wie diese besonders schön macht. Am Ende der Straße öffnen sich die Häuser zu einem kleinen Platz. Vor einem der Eckhäuser, dem mit der Hausnummer 2, suchte ich nach den drei Stolpersteinen. Sie sind mir früher schon aufgefallen. Einmal stand sogar ein Grablicht dort. Näher angeschaut hatte ich sie aber noch nicht. Jetzt waren sie von ein wenig Schnee bedeckt und es dauerte eine Weile, bis ich sie gefunden hatte.
Von Schnee bedeckt: die drei Stolpersteine vor der Rejsková 2. Foto: Mathis Brinkmann
Deportiert ins Ghetto Łódź
Die drei goldfarbenen Stolpersteine erinnern an das Schicksal der Familie Bruml. Arnošt Bruml und Berta Brumlová lebten hier zusammen mit ihrer Tochter Eva. Auf der Datenbank der Website holocaust.cz finden sich Bilder und Dokumente der Familie: ein Reisepass mit Stempeln aus Österreich und Italien, eine Anzeige beim Fundbüro in Prag über einen braunen Geldbeutel mit 70 Kronen darin. Beide stammen noch aus den 1920er Jahren. Im Jahr 1925 wurde ihre Tochter Eva geboren. Eine Suche in der Datenbank ergibt, dass sie nicht die einzigen in diesem Wohnhaus waren, die von den Nazis verschleppt und getötet wurden. Für insgesamt 13 Personen ist die Rejsková 2 als letzte Wohnadresse angegeben. Ihre Namen finden sich nicht vor dem Haus.
In den Dokumenten der Familie Bruml steht das Kürzel „mos.“, das für „mosaisch“ also jüdisch stand. Sie gehörten zu den knapp 50.000 jüdischen Menschen, die zu Kriegsbeginn 1939 in Prag lebten. Nur ungefähr 7.500 von ihnen überlebten die Verfolgung. Am 31. Oktober 1941 wurden alle drei Mitglieder der Familie Bruml in das Ghetto Łódź im heutigen Polen deportiert und anschließend ermordet. Von den 1.000 Menschen, die mit ihnen verschleppt wurden, überlebten nur 63.
Als ich um die Ecke ging, wehte mir ein kalter Windstoß ins Gesicht. Doch den Mann, der neben mir aus dem Hauseingang herauskam, schien das nicht zu stören. Er trug kurze Hosen bei minus vier Grad. Ein Blick auf die Wetter-App verriet, dass es in der kommenden Nacht sogar minus 16 Grad werden sollten. Schnell weiter, dachte ich mir und lief auf den Folimanka-Park zu.
Zwei Widerstandskämpfer in unmittelbarer Nachbarschaft
Am Rande des Parks steht ein kleines Denkmal, das an die Opfer der Zeit zwischen 1939 und 1945 erinnert. „Wir werden nicht vergessen“, steht in goldenen Lettern auf schwarzem Stein. Die wenigen Spuren im Schnee herum zeugten aber davon, dass in den letzten Tagen eher wenige Leute vorbeigekommen waren.
„Wir vergessen nicht“ – das Denkmal erinnert auch an die Familie Brumlová. Foto: Mathis Brinkmann
Am Haus direkt gegenüber dem Denkmal hängt ein Kopf. Oder zumindest der metallene Guss des Kopfes von Bohumír Budín. Er war als Arzt im Widerstand gegen die deutsche Besatzung tätig. Budín starb jedoch kurz vor Kriegsende, während des Prager Aufstandes. Kurz vor der Befreiung der Stadt 1945 durch die Rote Armee erhoben sich verschiedene Widerstandsgruppen und Bürger der Stadt gegen die deutsche Besatzung und konnten auch weite Teile der Stadt zurückerobern.
Grau auf grau: Der Kopf von Bohumír Budín schaut auf die Bělehradská-Straße. Foto: Mathis Brinkmann
Während sich hinter mir eine Straßenbahn die Steigung der Bělehradská-Straße hinaufmühte, musste ich nur wenige hundert Meter weiter laufen, um auf die nächste Gedenktafel in einem kleinen Hinterhof zu stoßen. Sie erinnert an Karel Holler, dessen Geschichte ebenfalls von Widerstand mit einem traurigen Ende handelt. Holler war Mitglied der Untergrundorganisation „Plamen svobody“ (Flamme der Freiheit). In seinem Wohnhaus versteckte er einen seiner Mitstreiter, Václav Tůma. Doch das Versteck flog auf. Am 27. Januar 1945 gegen zwei Uhr nachmittags stürmte die Gestapo die Wohnung und erschoss Holler an Ort und Stelle. Das graue Haus wirkt unscheinbar. Bis auf die Tafel lässt nichts darauf schließen, welch fürchterliche Dinge hier geschehen sind.
Direkt gegenüber dem Wohnhaus Hollers steht ein dunkles, freistehendes Holzhaus: die Villa Pod Zvonařkou, die in den 1920ern erbaut wurde. Einige der alten Holzbalken, die aus dem Haus herausschauen, sind schon leicht verfault. 1939 marschierte die Wehrmacht in Prag ein. Die deutsche Verwaltung quartierte sich in der Villa ein und nutzte das Haus als Herberge der Hitler-Jugend.
Ich drehte mich nach rechts und kam wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück. Es ist schon erstaunlich, wie viel Geschichte sich auf diesen wenigen hundert Metern erkunden lässt, dachte ich mir. Man muss nur einen kurzen Blick hinter die schönen Fassaden werfen.