Unser Landesblogger Robin hat in den letzten Wochen Beobachtungen zu Touristen in Prag gesammelt. Jetzt trägt er sie zu einer kleinen – natürlich überspitzten – Geschichte zusammen.
Es war ein Frühlingsmorgen, klar und sonnig, ein Freitag, als Robert S. aus dem Gebäude des Prager Hauptbahnhofs trat. Er trug eine Sonnenbrille, ein helles Hemd und eine schwarze Hose. In der Hand hielt er den Griff eines schmalen Reisetrollis. Trotz seines smarten Aufzugs war er sich der Tatsache, ein Tourist zu sein, unangenehm bewusst.
Auf den Bänken vor dem Bahnhof sah er Obdachlose, die aus glitzernden Glasflaschen Hochprozentiges tranken. Ein wenig weiter ließ sich eine Reisegruppe von einem Einwohner ablichten. Sie hielten grün-goldene Dosen mit Pilsner Urquell in den Händen. Ihr blödes Lächeln ärgerte Robert.
Er ging an der Gruppe vorbei in Richtung Wenzelsplatz, wobei er sorgfältig versuchte, zu überhören, dass dort deutsch gesprochen wurde. Überhaupt, so bildete er sich ein, hörte er kein tschechisches Wort auf seinem Weg zur Ferienunterkunft, die in einer der Seitenstraßen des Platzes lag. Er kannte genau zwei tschechische Wörter: „Pivo“ und „děkuji“. Doch schon die erste Frau, die ihm entgegenkam, sprach ein hochnäsiges britisches Englisch in ihr blitzendes Smartphone. Sonst hörte er nur Deutsch und nochmals Deutsch. Die Stadt war völlig überlaufen.
Bevor er in seine Straße einbog, ging Robert an einem Dönerladen, mehreren Minimärkten, zwei bis vier Hostels und etwa fünf Wechselstuben vorbei. Schließlich erreichte er seine Unterkunft. Im Gefolge der Betreiberin des AirBnBs stieg er die hochherrschaftlichen Treppen hinauf. Außer Ferienappartements gab es in dem Gebäude nur im Erdgeschoss eine kleine Rechtsanwaltskanzlei. Es war eine Schande, wie dieses Geschäftsmodell die Innenstadt entvölkerte. Robert schämte sich ein wenig, als er die schön möblierte Wohnung betrat. Er packte seine Sachen aus und überlegte.
Seine Freunde aus Berlin würden gegen Abend eintreffen. Davor wäre noch Zeit für ein wenig Kultur und ein zünftiges tschechisches Mittagessen.
Er ging ins Nationalmuseum und betrachtete dort ausgestopfte Tiere und Gemälde von historischen Persönlichkeiten, die ihm nichts sagten. Ein wenig gelangweilt verließ er das Museum, nicht ohne zuvor sein aufschlussreiches Kulturerlebnis per Selfie auf Instagram gepostet zu haben. Nach dem Vollzug dieses Aktes blickte er von den Treppen vor dem Nationalmuseum hinunter auf den Wenzelsplatz. Hier waren Revolutionen geschehen. Hier standen 1968 die sowjetischen Panzer. Heute liefen nur noch asoziale Touristen mit Kopfhören, lärmende Schülergruppen und gehetzte Tschechen herum. Robert S., der gerne für einen Moment als Kulturtourist gegolten hatte, hatte wenig Ahnung von der tschechischen Geschichte. Auch, als er vor dem Museum an einem Kreuz im Boden vorbeiging, das zwei ihm unbekannte Namen trug, dachte er sich nicht viel dabei.
Er hatte jetzt Hunger und ein bisschen Durst. Auf seinem Weg in die Altstadt kam er an einem tschechischen Bierrestaurant vorbei. Er schaute auf die Karte. 59 Kronen für ein Pilsner. Die Bierpreise in Tschechien waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Trotzdem ging er hinein.
„Pivo.“ Robert gestikulierte und der Kellner verstand. Dennoch empfand Robert es als Kränkung, dass er für die Dauer seines Aufenthalts in der Gaststätte nur auf Englisch angesprochen wurde. Er aß „Svíčková“ und trank dazu drei Pilsner. So günstig kam man in München fürs Essen nicht weg. Später lehnte er sich auf seiner Wirtshausbank zurück und schaute glücklich in den holzgetäfelten Raum. So musste es sein, so hatte er sich Tschechien vorgestellt.
Er trat aus dem dunklen Restaurant in die helle Aprilsonne. Sogleich setzte er die Sonnenbrille auf und ging in einer wohligen Stimmung Richtung Karlsbrücke. Das Gedränge nahm zu und auf dem Altstadtring wurde es schon unerträglich. Als er auf den Platz trat, fiel Roberts Blick auf ein schön bemaltes Gebäude, vermutlich aus dem 17. Jahrhundert. In seinem Erdgeschoss war ein Salon für Thai-Massagen untergebracht. Grün-rote Farben. Pop-Musik. Winkekatzen. Alte Männer und fette Frauen, die ihre unförmigen Körper für 9,99 Euro hinter dem Schaufenster massieren ließen. Und darüber die Gemälde ehrwürdiger Schreiber in Mönchskutten. Robert ging schnell weiter und lief, ohne sie groß zu beachten, an der Astronomischen Uhr vorbei. Er verschwand in den kleinen Gassen zwischen Altstadtring und Karlsbrücke. Dort roch es überall nach süßem Gebäck. In den Geschäften gab es nur Souvenirs und CBD zu kaufen. An jeder Ecke verkauften sie Baumstriezel. Angeblich eine tschechische Spezialität. Überall waren Menschen. Robert hätte gerne die Stadt für sich allein gehabt, wie schön es wäre, wenn ihr Zauber vor dem Kommerz bewahrt wäre! Trotzdem hielt er an einem Souvenirladen an und kaufte einen Kühlschrankmagneten für seinen Sohn, der die Dinger mochte.
Auf der Karlsbrücke war es noch schlimmer. Es war kaum ein Durchkommen. Von den Ständen der Straßenmaler starrten ihn groteske Karikaturen von Männern mit dickem Kinn und Frauen mit noch dickerem Hintern an. Dazu dudelte irgendeine hyperaktive Jazzmusik. Die Statuen gingen in dem Gewirr unter, die ferne Prager Burg war schön, aber unerfreulich, wenn man ihren Anblick mit so vielen Menschen teilen musste, die Goldketten trugen und sich die Lippen aufspritzen ließen.
Frustriert kaufte Robert auf der Kleinseite ein Bier in einem Minimarkt. Der vietnamesische Kassierer gab wortlos das Rückgeld. Mit der Dose in der Hand stieg Robert zum Hradschin hinauf. Auf dem Weg nach oben kam er an Läden vorbei, die mit Marihuana warben. Robert war erstaunt darüber, dass Gras in Tschechien legal war. Oben war nicht viel zu sehen. Eine Kirche, ein paar Gebäude. Robert langweilte sich bald und stieg über eine Seitengasse wieder zur Karlsbrücke hinab. Die leere Bierdose stellte er auf eine Mauer. Für die Obdachlosen. Er hatte schon wieder etwas Appetit und weil er schon etwas betrunken war, gönnte er sich einen Baumstriezel. Dann wusste er nicht mehr, wohin mit sich, ging zwischen den Gassen umher, an der beschmierten Lennon-Wall vorbei. Schließlich führten ihn seine Schritte zu einem weiteren Bierrestaurant. Robert trat ein.
Als er seine Freunde vom Bahnhof abholte, war Robert schon sehr betrunken. Es fiel ihnen nicht sonderlich auf. Sie hatten sich im Zug ab Berlin bereits ordentlich volllaufen lassen. Robert begrüßte sie.
„Heute feiern wir deinen letzten Tag in der Freiheit“, sagte er, als er Sebastian umarmte. Der grinste und sagte:
„Ja, dafür wollen wir heute richtig auf die Kacke hauen.“
Ein Freund Sebastians, den er nicht so gut kannte, reichte ihm eine Flasche Berliner Luft. Etwas zögerlich nahm Robert einen Schluck. Die anderen feuerten ihn an.
„Ein bisschen Spaß haben kann ja nicht schaden“, dachte sich Robert und nahm noch einen Schluck.
Nachdem sie ihre Sachen in der Ferienwohnung abgelegt hatten, holte Sebastian etwas aus seinem Koffer.
„Soll ich das wirklich anziehen?“, fragte Robert, doch sein Widerstand war schon gebrochen.
Auf dem Weg in die Stadt kamen sie an einem Laden vorbei, der Gras verkaufte. Sie nahmen einen ganzen Packen mit. Sebastian drehte. Aber irgendwie wirkte das Zeug nicht.
„Ist alles Beschiss“, sagte einer von Sebastians Freunden.
Sie gingen, gegen Robert ausdrückliches Votum, in einen Irish Pub. Drinnen war es stickig und voll, aber sie fanden noch einen Platz. Ein paar Leute schauten sich nach Robert um, der nur leicht bekleidet war. Überall wurde englisch gesprochen.
„Blöde Engländer. Kommen hierher, um die Stadt zu sehen und dann gehen sie doch immer in denselben beschissenen Irish Pub, der überall auf der Welt gleichaussieht. Zum Kotzen.“, dachte Robert, der sich in seinem neuen Aufzug unwohl fühlte. Seine Kameraden sahen nicht besser aus. Am schlimmsten natürlich Sebastian. Er trug ein Hasenkostüm mit einer Hinternklappe, mit dem er jederzeit blankziehen konnte.
Sie aßen Burger und tranken Guinness und freundeten sich mit einem zweiten Junggesellenabschied aus Manchester an, der zwei Tische weiter lärmte. Mit dem zogen sie weiter. Beim erstbesten Club machten sie Halt. Die Schlange war lang, der Türsteher breit. Überall hörten sie nur Russisch und Ukrainisch. Die Engländer legten sich mit denen vor sich in der Schlange an.
„Sollten die nicht für ihr Land kämpfen?“
Beinahe kam es zu einer Schlägerei. Robert begann sich, seinen Aufzug und die ganze Situation zu hassen. Aber er war zu betrunken, um auszusteigen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt in den Club hineinkamen. Unten, wo sie irgendwelchen EDM spielten, ging er gleich an die Bar.
Von da erinnerte er sich an nicht mehr viel. Auf dem Nachhauseweg machten sie an einem McDonald‘s auf dem Wenzelsplatz Halt. Als er auf die anderen wartete, fielen ihm Pommes und Bier aus den Händen. Er fluchte und schob Scherben und zermatschtes Essen in Richtung eines Mülleimers. Als alle ihr Essen hatten, gingen sie in Richtung Nationalmuseum. Die anderen sangen Schlager: „Eine Puffmama, die heißt Layla…“
Robert fühlte sich nicht gut. Immerzu ging es aufwärts. Aufwärts und aufwärts. Alles drehte sich. Sie gingen über eine Straße, die ihm bekannt vorkam. Überall war sehr viel Platz. Robert stolperte über eine Unebenheit im Boden. Ein komisches Ding erhob sich da ein paar Zentimeter aus der Erde. Seine Kumpels hoben ihn auf. Robert schwankte. Dann übergab er sich. Und übergab sich nochmal. Im Licht der Laternen, die das Nationalmuseum beschienen, konnte er verschwommen eine Aufschrift und ein Kreuz erkennen.
Die anderen zogen ihn weiter. Robert lallte den ganzen restlichen Weg.
„Isch habe auf Jan … gekotzt. Tut mir voll leid das. Echt. D-D-er arme Kerl. Jan Pal-Pa-Palatsch l-l-liegt da vorm schönen Museum mit den a-a-usgestopften Tieren. Und I-I-ch hab auf ihn draufgekotzt.“
Als Robert S. am nächsten Mittag mit schweren Kopfschmerzen erwachte, noch in dem geschmacklosen Junggesellenkostüm, das seine Freunde ihm angezogen hatten, wusste er, dass er sich in einen typischen Prager Touristen verwandelt hatte. Er trug eine blonde langhaarige Perücke und einen roten ausgeleierten Bikini. Sein Atem stank bestialisch. An seinen Schenkeln fühlte er etwas unangenehmes. Mit schwarzem Edding hatten seine Saufkumpane, die jetzt in den anderen Zimmern schnarchten, ein dichtes Gebüsch aus Schamhaaren um seinen Schritt gemalt. Während er langsam zur Toilette taumelte, fragte er sich, wofür sie überhaupt hergekommen waren.
Für Kultur jedenfalls nicht.
Über unseren Landesblogger:
„Dobrý den. Jmenuji se Robin Sluk. Rád Vás poznávám.“
Zumindest die Vorstellung auf Tschechisch klappt schon einigermaßen. Was den Rest der Sprache anbetrifft, werde ich in den nächsten Monaten noch viel zu lernen haben.
Mit Tschechien verbindet mich die Geschichte meines Vaters, der als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg (Liberec) aufwuchs und im August 1968 mit seiner Familie ausgewandert ist. Diese Ausreise war ein recht interessanter Vorgang, über den ich gerne in einem oder zwei Artikeln für das LandesEcho berichten werde. Insbesondere bin ich darauf gespannt, die Prager Kultur- und Literaturszene kennenzulernen und plane einige Artikel über die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Prag.
Ursprünglich habe ich in Freiburg Philosophie und Mathematik studiert. Mein Ziel beim LandesEcho ist es, einige grundlegende journalistische Kompetenzen aufzubauen. Ganz fremd bin ich der schreibenden Zunft allerdings nicht: Neben der Arbeit bei LandesEcho sitze ich zur Zeit an meinem ersten größeren Projekt, einem literarischen Tagebuch über St. Petersburg, wo ich von August 2018 bis Juni 2019 gelebt habe.
Ich freue mich auf die Zeit in der Redaktion und hoffe, der Leserschaft einige lesenswerte Artikel präsentieren zu können.
P.S.: Sofern ein Prager Leser oder eine Leserin daran interessiert ist, mit mir deutsch zu sprechen und mir dafür im Gegenzug etwas Tschechisch beibringen möchte, kann er oder sie mich unter der Adresse: praktikant@landesecho.cz erreichen.