Radka Denemarková und ihr Buch "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" / Foto: Tobias Bohm, Buchcover

Radka Denemarkovás Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude dreht sich um die zweitklassige Hälfte der Menschheit – Frauen und deren physisches Gedächtnis. Es ist ein provokantes, belastendes und körperlich angreifendes Buch über ungleiche „Freude“: Sex und Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigung. Und Rache.

 

Fast hätte ich am Morgen in die überfüllte Prager U-Bahn gekotzt. Nicht einfach so, natürlich. Nein, ich lese dort gewöhnlich. Und Radka Denemarkovás Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude ist ein so drastisches Buch, das dem Leser, mehr noch sicher der Leserin, richtig an die Nieren geht. Oder wohin eigentlich? Oder eben den Magen herumdreht. Obwohl es der Titel gar nicht erahnen lässt. 

Ein junger Prager Ermittler erhält einen aufreibenden neuen Fall, der ihn zu nerven beginnt, je weiter er sich verzweigt: „(…) wir sind hier in Prag, hier herrscht heilige Ruhe, uns betrifft die Welt draußen nicht, was schleppen die für Brut und Brand hier ein, Bazillen und Viren (…)“. Er untersucht den offensichtlichen Selbstmord eines einflussreichen Mannes, der ein luxuriöses Leben führte. Während der Ermittlungen stößt der Kriminalist nicht nur auf die attraktive Witwe, sondern auch auf drei bzw. vier alte Damen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, Vergewaltigungen zu dokumentieren und Frauen aus der Gewaltspirale zu befreien. Dabei scheuen sie nicht Mittel noch Wege. In einem ominösen alten Haus unterm Prager Hausberg Petřín gerät der Ermittler in ein Labyrinth aus Geschichten von Demütigung, Erniedrigung und Brutalität seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart. 

„Man muss Wörter mit der Peitsche malträtieren. Damit sie präzise und schlagkräftig werden“, lässt Denemarková eine der Damen einen unsicheren Journalisten belehren. Genauso beschreibt die Autorin denn auch in detailreicher, intimer und bildhafter Sprache Ereignisse und Empfindungen der Protagonisten. Der Ermittler und andere Männer bleiben namenlos. Dafür bekommen die Frauen – ob Opfer, Täterin oder, wie in vielen Fällen, beides – Namen. Wenigstens in diesem Buch, wenn schon sonst nicht in der Öffentlichkeit. 

Das Buch reibt sich auf an der Frage: „Ist doch nur Vergewaltigung?!“ – also nicht vergleichbar mit Suizid, Mord, Totschlag oder dem Töten im Krieg? Nein, heißt es gegen Ende des Romans immer klarer: „Die Außenwelt ist unleserlich. Der Körper des Ermittlers wird schwer, im Labyrinth bekommt man keine Luft. Das Haus unterm Petřín verpasst der Polizei einen arroganten Denkzettel. Es war nicht nur Vergewaltigung. Eine Vergewaltigung ist ein Verbrechen.“ 

„Ich habe mich schon länger damit getragen. Der letzte Impuls kam vor Jahren bei einer Veranstaltung in Deutschland“, erzählt Denemarková jüngst im LandesEcho-Interview. „Da war ein älterer Herr, der sehr aggressiv auftrat. Ich konnte ihn gut verstehen. Er stammte aus einer Familie von Sudetendeutschen, die aus Tschechien vertrieben worden waren. Aber leider lud er all seinen Frust an mir ab, fragte, wann die Tschechen endlich die Sudetendeutschen entschädigen werden. Ich habe ihm immer nur geantwortet, dass ich keine Politikerin bin und ich ihn verstehe. Aber irgendwann habe ich spontan zurückgefragt: Mich würde eher interessieren, wann alle Frauen entschädigt werden, die damals im Krieg von Soldaten aller Armeen vergewaltigt wurden. Genauso spontan, wie ich diese Frage aufgeworfen hatte, antwortete er mir: Die wurden doch nur vergewaltigt. Dieses Wort nur habe ich mit nach Hause genommen und mir vorgenommen, dass ich das in alle Kontexten verwenden und enthüllen werde.“

Es geht um eine systematische Zwei-Klassen-Behandlung der Hälfte aller Menschenkörper. Damit hatte Denemarková die #MeToo-Debatte in Mitteleuropa schon aufgegriffen, Jahre bevor sie in Hollywood losgetreten wurde. Was ihren Protagonistinnen wichtig ist, ist: Körper vergessen nicht, sie passen sich der Erniedrigung an, geben ihre Unterdrückung möglicherweise weiter. Sie können dann auch selbst „junges Fleisch“ an Peiniger liefern. So passiert es im Buch nicht nur einer Frau. „Die Zeit heilt keine Wunden. Die Zeit konserviert die Wunden nur.“ Und so fühlt sich schon auch mal ein Leserinnen-Körper angegriffen und würgt Schmerz und Ekel runter. Auch an einem ganz normalen, sonnigen Morgen in der Prager Metro.

Eine Rettung aber hält Denemarkovás Buch bereit. Denn omnipräsent sind auch Schwalben: Schwalbennester, Schwalbenschwänze, Schwalbenschnäbel und alle möglichen Vogelnamen. Ein Buch, das die „Hackordnung“ der Menschen anprangert, lässt die als frei, grazil und eigensinnig geltenden Flugtiere den Überblick behalten. Immer wieder schieben sie sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit – als alles sehende, allwissende, gleichberechtigte und unabhängige Beobachter. Denn bis vor den Richter kommen die Ergebnisse des Ermittlers letztlich nicht. Vielmehr steigen sie mit dem „Flug einer Schwalbe“ von Ostsee-Usedom 2011 nach Nordsee-Amrum 2014 in die Lüfte auf.

Unter dem Titel Příspěvek k dějinám radosti erschien der Roman 2014 auf Tschechisch, im März 2019, pünktlich im Vorfeld der Leipziger Buchmesse mit Gastland Tschechien, in Übersetzung von Eva Profousová im Hamburger Verlag Hoffmann und Campe auch auf Deutsch.


Radka Denemarková wurde 1968 geboren und wuchs in Kolín auf. Seit ihrem achten Lebensjahr erhielt sie Privatunterricht in Deutsch. Sie betrachtet Deutsch als ihre zweite Muttersprache. Sie studierte Germanistik und Bohemistik, seit 2004 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Ihr Werk umfasst bisher 16 Bücher und 20 Bühnenstücke. Zugleich übersetzt sie deutsche Literatur u.a. von Herta Müller und Thomas Bernhard. Als bisher einzige Autorin erhielt sie in Tschechien dreimal den wichtigsten Literatur-Preis in drei verschiedenen Kategorien, für „Ein herrlicher Flecken Erde“ (beste Prosa), „Tod, Du wirst Dich nicht fürchten“ (ein Sachbuch über den Regisseur Petr Lébl) sowie die Übersetzung von Herta Müllers „Atemschaukel“ (beste Übersetzung). In Deutschland wurde sie für „Ein herrlicher Flecken Erde“ mit dem Usedom Literaturpreis (2011) und dem Georg-Dehio-Buchpreis (2012) ausgezeichnet. Im Februar erschienen fast gleichzeitig ihre zweites Buch auf Deutsch („Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“) und ihr neuestes Buch („Stunden aus Blei“). Denemarková lebt mit ihren Kindern Ester und Jan in Prag.     (stn)


Radka Denemarková mit Ein Beitrag zur Geschichte der Freude auf Lesetour in Deutschland…

10. April 2019, 19:30: Literaturzentrum Hamburg

11. April 2019, 20:00: Literaturhaus Schleswig-Holstein e. V., Kiel

16. Mai 2019,  19:30: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Literaturhaus Oberpfalz

…Österreich… 

6. Mai 2019, 19:30: Literaturhaus Salzburg

… und in Tschechien:

10. Juni 2019, 17:00: Šmidingerova knihovna, Strakonice


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Radka Denemarková gehört zu den wichtigsten zeitgenössische Autorinnen Tschechiens. Ihre Bücher werden in 22 Ländern verlegt. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse ist ihr Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ auf Deutsch erschienen. Darin führen drei Frauen ein geheimes Archiv über vergewaltigte Frauen. LE sprach mit der Autorin über das Buch, warum sie so lange nicht in Deutschland verlegt wurde und wie es ist, alleinerziehende Mutter und freie Autorin zu sein.

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