yvonneprenosilova

2000 Worte beeinflussten ihr ganzes Leben: Vor 50 Jahren unterzeichnete die junge Sängerin Yvonne Přenosilová das „Manifest der 2000 Worte“ von Ludvík Vaculík. Wenige Wochen später war der Prager Frühling vorbei, die damals 21-Jährige musste die Tschechoslowakei verlassen. Im Gespräch erinnert sie sich an die Ereignisse 1968, den Neuanfang in München und an Mick Jaggers Kenntnisse in Geographie.

 

Yvonne Přenosilová wurde als 15-Jährige bei einem Casting für das Prager Semafor-Theater entdeckt. Mit ihrer markanten Stimme wurde sie in den 1960ern in der Tschechoslowakei schnell zum Star, unter anderem mit tschechischen Versionen von „These boots are made for walking“ oder „I’m sorry“.  Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten ging sie 1968 nach Westdeutschland. Heute lebt Yvonne Přenosilová in München und Prag. Für das tschechische Country Radio legt sie jeden Freitagabend Musik auf.

 

LE: Frau Přenosilová, 1968 waren Sie ein Star in der Tschechoslowakei. Wie begann Ihre Karriere?

Ich habe damals Tennis gespielt, hundsmiserabel, und auf dem Tennisplatz waren Leute, die Musik machten. Sie sagten, im Tennis packst du es sowieso nie, aber deine Stimme ist gut. Ich brüllte nämlich immer vor Wut, wenn ich den Ball nicht getroffen hatte. Also versuchte ich es. Dann wurde in einer Zeitschrift ein Casting für ein berühmtes Theater ausgeschrieben. Über 300 Mädchen bewarben sich, doch es war ein Fake. Miloš Forman filmte mit versteckter Kamera. Es gab damals ein berühmtes Lied, das alle sangen. Forman hat es so zusammengeschnitten, dass die Mädchen wie Doofies rauskamen. Ich habe ein Lied im Stil „Cockorockoocockoo“ gesungen, den Blödsinn vom Tennisplatz, und das spanische Lied „Malaguena“. Erst danach erfuhren wir, dass heimlich gedreht worden war, der Film erschien unter dem Namen „Konkurz“. Doch unter den Juroren war ein Herr, der Vielen zur Karriere verholfen hat. Er sagte mir, es würde ein richtiges Casting stattfinden, mit der berühmten Gruppe Olympic. Diesen Wettbewerb gewann ich, und sang ein, zwei Jahre mit ihnen. Dann gründete Karel Gott mit den Gebrüdern Štaidl das Theater Apollo. Er sprach mich an, ob ich mitmachen wollte. Und das tat ich bis 1968, als ich wegging.

LE: Ihre Musik war damals eine Ausnahmeerscheinung, sehr amerikanisch beeinflusst.

Das erste Lied, das ich mit Olympic gesungen habe, hat man mir zugeteilt, ein spanisches Lied. Man glaubte, ich würde in dieser Schiene weiterfahren, aber mir hat es nicht so toll gefallen. Ein anderes Mädchen sollte „I’m sorry“ von Brenda Lee singen. Und wie es so ist unter Mädchen, wir sagten, komm, wir tauschen. Der Herr, der mich entdeckt hatte, war stockwütend. Das legte sich dann, denn das Lied „I’m sorry“ wurde in der tschechischen Version „Roň slzy“ zu meinem ersten Hit. Ein Bombenhit. Und weil wir eine ähnliche Stimme hatten, wollte ich Brenda Lees Repertoire auf Tschechisch singen. Hier gab es ja zu der Zeit überhaupt keinen Zugang zu amerikanischer oder englischer Musik. Man hörte zwar Radio Luxembourg und so, aber zu kaufen gab es eigentlich nichts. Ich sang aber auch andere Sachen, tschechische Komponisten, italienische Lieder. Die Palette war ziemlich breit.

LE: Stimmt es, dass Sie sogar einmal mit den Rolling Stones gesungen haben?

Oh nein, schön wär’s. In der Tschechoslowakei waren damals englische Musikmanager auf Talentsuche. Sie wählten mich aus, da war ich 17. Ich fuhr also nach England und war bei Pye Records, damals ein sehr berühmtes Label. Mein Manager wurde Tony Hatch, der Mann, der „Downtown“ geschrieben hat. Ich habe dort eine Platte aufgenommen, musste aber wegen meines Abiturs wieder zurück in die Tschechoslowakei. Es war ein Riesenstudio. Auch in Talkshows und Musiksendungen trat ich auf und lernte viele berühmte Künstler kennen. Die Rolling Stones traf ich aber nur auf dem Gang im Studio. Mick Jagger fragte mich, wo ich herkomme. Er wusste gar nicht, wo die Tschechoslowakei liegt, Simbabwe irgendwo. Er wünschte mir ‚good luck‘, das war alles. Wäre schön, wenn ich mit ihnen aufgetreten wäre. Aber ganz ehrlich, es ist nicht meine Gruppe. Damals war das geteilt: Es gab Beatles-Fans, und es gab Stones-Fans. Ich war eher bei den Beatles.

LE: Wie haben Sie den Prager Frühling erlebt, Januar bis August, als so viel möglich schien?

So wie meine Freunde und ich gestrickt waren, haben wir es mit einer gewissen Skepsis empfunden. Aber dann zeigte sich, es war wirklich eine Lockerung. Früher gab es Zensur, was die Texte betraf, was die Kleidung betraf. Man hat in alles hineingequatscht. Und plötzlich hat man doch einen frischen Wind gespürt. Wir waren nicht begeistert, dass nach wie vor alles von der Kommunistischen Partei ausgeht. Und dem ‚menschlichen Antlitz‘ haben wir auch nicht so ganz getraut. Aber es war eine Lockerung da, und wir sagten uns, na wenn‘s nun so ist, dann sei Gott sei Dank.

LE: Haben Sie an Versammlungen oder Aktionen teilgenommen?

Nein. Ich habe gearbeitet. Politisch war ich überhaupt nicht engagiert.

LE: Die Lockerung setzte aber schon vor 1968 ein?

Es war so schleichend. Es war so, dass man es anfangs gar nicht gemerkt hat. Erst nach und nach merkte man, es ist doch ein anderer Wind.

 

Das „Manifest der 2000 Worte“ (tschechischer Originaltext: hier) erschien am 27. Juni 1968 und gilt als Schlüsseldokument des Prager Frühlings. Der Autor Ludvík Vaculík rief die tschechoslowakischen Reformkommunisten um Alexander Dubček darin dazu auf, nicht vom eingeschlagenen Kurs abzuweichen. Die unverblümten Worte – im März war die Zensur in der Tschechoslowakei aufgehoben worden – sorgten für Aufruhr bei den Kommunisten in Prag, vor allem aber beim großen Bruder in Moskau. Wenige Wochen, am 21. August,  später endete das Experiment des Prager Frühlings mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei.

 

LE: Frau Přenosilová, Sie waren im Juni 1968 die jüngste Unterzeichnerin der 2000 Worte. Waren Sie damals politisch engagiert?

Ich war politisch interessiert, aber nicht engagiert. Meine Familie war von den Kommunisten gezeichnet, weil mein Vater im Krieg bei der englischen Armee gewesen war. In den fünfziger Jahren wurden aber alle Soldaten und Offiziere eingesperrt, die unter anderen Flaggen gekämpft hatten. Somit war ich natürlich ein bisschen politisch gefärbt, aber nicht persönlich engagiert. Ich weiß nicht, wieso Herr Vaculík auf die Idee kam, mich als eine der ersten 30 Unterzeichnenden auszuwählen. Er hat mich am Flughafen angesprochen, als ich gerade irgendwohin unterwegs war, und hat es mir zum Lesen gegeben. Das war der Prager Frühling, darf man nicht vergessen. Alles war plötzlich frei und easy, es wehte ein ganz anderer Wind. Mir kam es zum damaligen Zeitpunkt absolut harmlos vor. Somit habe ich es leichten Herzens unterschrieben. Aber was dann kam, damit hat kein Mensch gerechnet. Es folgte telefonischer Psychoterror, 24 Stunden täglich ‚Wir bringen dich um‘, es war grauenvoll.

LE: Wer stand dahinter?

Der KGB und der StB. Es waren keine „normalen“ Kommunisten. Sie meldeten sich immer als Arbeiter irgendeiner Fabrik. Alles nur, um uns Unterzeichner einzuschüchtern. Zum Großteil ist es ihnen auch gelungen, manche haben widerrufen. Nach seinen Erfahrungen mit den Kommunisten hat mein Vater zu mir gesagt, du musst weg, denn sie werden ihre Drohungen wahrmachen. Als die Russen kamen, war es natürlich die größte Überraschung für uns alle. Nach den Ereignissen vom August 1968 sollten die Unterzeichner nicht mehr zuhause schlafen. Das meldete der Rundfunk, solange er noch senden konnte. So übernachtete ich jede Nacht woanders bei Freunden. Einer unserer Textschreiber fragte meine Eltern, ob ich noch da sei. Er war ein Witzbold und meinte, er fahre nach Wien, um eine Sachertorte zu essen, ob ich nicht mitkommen wolle. Meine Mutter hat dann den Koffer gepackt. Wir fuhren ganz blind zur österreichischen Grenze, das war die nächste. Alle Wegweiser waren übermalt, überall stand nur Moskau – soundsoviel Kilometer. Ein paar Russen fragten uns, ob wir Gewehre haben. Wir gaben ihnen Zigaretten, und so haben wir die Grenze erreicht und kamen ziemlich heil an.

LE: In einem Text von Ludvík Vaculík aus dem Juli 68 heißt es, er habe Sie angesprochen, weil ihm das Lied „Už to nejde dál“ so gefiel. Auch Ihren Hit von 1968 „Zimní Království“ (Winterkönigreich) konnte man politisch deuten.

In dem Lied geht es eigentlich um die Schneekönigin, Gerda und Kay. Das war überhaupt nicht als politisches Lied gedacht. Doch nach der Okkupation bekamen die Worte einen anderen Sinn für die Zuhörer. Und somit wurde es plötzlich ungewollt ein Protestsong. Und „Už to nejde dál“ heißt auf Deutsch „Es geht nicht mehr weiter“, es reicht. Da geht es um ein zwischenmenschliches Verhältnis zwischen Mann und Frau: Du gehst mir auf die Nerven, hau doch ab und verschwinde. Ich wusste gar nicht, dass Herr Vaculík das Lied mochte, dass es ihn inspiriert hat.

LE: Würden Sie das Manifest nochmals unterschreiben, wenn Sie wüssten was kommt?

Das ist die Frage … 21 Jahre später, im Jahr 1989, rief mich Eva Pilarová in München an. Sie sagte: ‚Wir machen im Palais Lucerna in Prag ein Konzert‘, also wirklich in der goldenen Halle für uns Künstler. Ich sollte kommen und singen. Das Geld ging an die Studenten, die die ganze Bewegung initiiert hatten. Nach 21 Jahren war ich plötzlich zurück. Das war Anfang Dezember, ganz kurz nach dem 17. November – für mich ein ziemlich gewagtes Unternehmen. Dort kamen dann manche zu mir, die das Manifest unterschrieben und widerrufen hatten. Sie hatten unter einem derartigen Druck gestanden. Man hat ihnen gedroht, die Familie kaputt zu machen. Ich kann niemanden verurteilen. Ich habe mir die Frage selbst gestellt, was hätte ich getan? Es war eine Nervenfrage: Wäre es weitergegangen unter diesem Druck, hätte ich ihn überstanden? Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich verurteile keinen, der es widerrufen hat.

LE: Waren Sie während Ihrer Emigration in Kontakt mit den anderen?

Nein, zu keiner Zeit. Ich wollte sie nicht gefährden. Ich arbeitete bei Radio Free Europe. Da habe ich zwar lediglich Musik aufgelegt, keine politischen Kommentare gesendet. Aber für die Kommunisten war es der meistgehasste Sender. Persönlich gab es überhaupt keinen Kontakt und brieflich nur zu Weihnachten mit meinen alten Freundinnen, Marta Kubišová, Eva Pilarová oder Pavlína Filipovská. Manche Briefe kamen aber nicht an, wir wissen ja, wie das lief. Erst als ich zurückkam, haben wir uns wiedergesehen.

LE: War es nach der Emigration schwer für Sie in Deutschland Fuß zu fassen?

Wissen Sie was? Ich habe es genossen. Plötzlich habe ich normal gelebt. Mir ist die Teenie-Zeit eigentlich davongelaufen, weil ich da schon gesungen habe. Und plötzlich war ich frei. Ich hatte immer Komplexe, wenn ein Junge Gefallen an mir gefunden hat, dass es wegen meinem Namen und meiner Berühmtheit sein könnte. Und plötzlich galt das Interesse mir als Person. Das habe ich genossen, auch das süße Nichtstun. Aber dann sagte jemand auf einer Party, Bavaria sucht Bodenpersonal. Ich dachte mir, warum nicht? Ich konnte die Sprachen. Denn als meine Eltern nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurückkamen, haben sie zuhause Englisch gesprochen. Mein Vater gab meine Mutter als Engländerin aus, weil Deutsch nach dem Krieg nicht gerade die bevorzugte Sprache war. Somit bin ich eigentlich dreisprachig aufgewachsen. Ich suchte also im Telefonbuch unter B-Bavaria. Leider besetzt, hieß es. Da dachte ich mir, wenn ich mir schon die Mühe gemacht habe, das Buch aufzuschlagen, schaue ich weiter. Ich fand British Airways, rief an und bekam einen Termin beim Chef von British Airways in München. Und wie klein die Welt ist, er war ein Freund vom Vater meiner besten Freundin. Das ganze Gespräch drehte sich dann nur um private Dinge. Ich unterschrieb den Vertrag und fing am nächsten Tag in München-Riem beim Bodenpersonal an. Später habe ich noch Load Control gemacht, da musste man Balance und Beladung ausrechnen. Das hat mir Spaß gemacht. Man war im Kontakt mit dem Flieger, dem Catering und so weiter. Und dann habe ich geheiratet und somit war Ende.

LE: Klingt nach einer schnellen Integration. Lag das auch an der großen tschechischen Gemeinde in München, die bei Radio Free Europa tätig war?

Vom Radio hat man mich angesprochen, als sie erfahren haben, dass ich da bin. Aber ich wollte etwas anderes machen, ich wollte nicht zum Radio. Aber jedes Mal, wenn ich von irgendeiner Reise zurückkam, habe ich dort ein Interview gegeben, wo ich war, wie es war. Angestellt wurde ich erst, als mein Sohn in die erste Klasse ging.

LE: Nach der Samtenen Revolution kehrten Sie nach Prag zurück. Haben Sie Ludvík Vaculík jemals wieder getroffen?

Ich habe ihn leider Gottes nie wieder getroffen! Wie Sie sagen, es waren wohl diese Lieder, die ihn inspiriert haben. Ich war die jüngste von allen, die das Manifest unterschrieben haben. Eigentlich habe ich nie danach geforscht, warum er mich ausgewählt hat – jetzt weiß ich es.

 

Das Gespräch führte Annette Kraus.

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