Mit dem Fall der Berliner Mauer begann im November 1989 die Wende.
Mit dem Fall der Berliner Mauer begann im November 1989 die Wende. Credit: Lear 21 via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Anfang Oktober besuchten die beiden Autorinnen Judith Hermann und Claudia Rikl das Begegnungszentrum Brünn. In einer Gesprächsrunde offenbarten die beiden unterschiedliche Perspektiven auf den Mauerfall.

Zwei bedeutende deutsche Autorinnen weilten im Oktober im Rahmen zweier verschiedener Autorenresidenzen in Brünn (Brno). Während Judith Hermann dem Ruf ihrer alten Freunde und Verleger Petr Minařík und Petr Řehořík vom Verlag Větrné mlýny (dt. Windmühlen) folgte, ist Claudia Rikl im Rahmen des Städtepartnerschaftsaustauschprogramms Brünn-Leipzig gekommen. Das Ziel der beiden war identisch: einen literarischen Text über Brünn zu verfassen. Das Leben der Stadt und die Menschen kennenlernen, gehört zu den Hauptzielen dieser Residenzen. Der Austausch mit der deutschen Minderheit und den Freunden der deutschen Sprache und Kultur durfte dabei nicht fehlen. Dazu kam es am 8. Oktober bei einem gemeinsamen Besuch im Begegnungszentrum des Deutschen Kulturvereins Region Brünn (DKVB). Es entwickelte sich ein höchst interessantes Gespräch für beide Seiten. 

Rikl spürt Traumata nach

Claudia Rikl wurde 1972 in Naumburg in der DDR geboren und ist dort aufgewachsen. Seit ihrem Hochschulstudium lebt sie in Leipzig, seit 2016 als selbständige Schriftstellerin und Dozentin für kreatives Schreiben. Sie publiziert unter dem künstlerischen Namen Liv Marie Bahrow. Derzeit arbeitet sie an einem Roman mit dem Arbeitstitel Němka (dt. Die Deutsche), der im Frühjahr 2026 erscheinen soll und in die deutsch-tschechische Vergangenheit führt. Die Autorin versuchte schon in ihren früheren Romanen die Spätfolgen verdrängter Traumata in einem Menschen nachzuspüren – wie auch in ihrem aktuellen Werk. 

Judith Hermann und Claudia Rikl (am Kopfende, v.l.) am 8. Oktober 2025 im Begegnungszentrum Brünn.
Judith Hermann und Claudia Rikl (am Kopfende, v.l.) am 8. Oktober 2025 im Begegnungszentrum Brünn. Credit: Leopold Hrabálek

Ihr besonderer Themenschwerpunkt wurzelt in ihrer eigenen Biografie. Im Jahre 1945 wurde die Familie ihrer Mutter aus Arnau (Hostinné) im nordöstlichen Böhmen vertrieben. In der Familie wurde nie über die traumatischen Ereignisse gesprochen, womit ein weiterer bedauerlicher Verlust einhergegangen ist: die nachfolgende Generation wusste kaum etwas von dem jahrhundertelangen friedlichen Zusammenleben von Deutschen und Tschechen. So bemüht sich Claudia Rikl, diese Leerstellen zu füllen und damit die Schwierigkeiten, die das Leben nach 1945 besonders auch ihrer Familie in der DDR bereitete, besser zu verstehen. Bei ihren Forschungen und Recherchen suchte sie keinen Kontakt zu den sudetendeutschen Organisationen, weil sie diese für „Ewiggestrige“ gehalten habe. Das änderte sich jedoch, nachdem sie den Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, persönlich kennenlernte. Er war es auch, der ihr Brünn mit seinen verschiedenen Initiativen empfohlen hatte. Deshalb nahm sie im vergangenen Jahr am Festival Meeting Brno teil und lief auch beim Versöhnungsmarsch aus Pohrlitz (Pohořelice) zurück nach Brünn mit. Zu einem höchst interessanten Thema wurde im Gespräch mit beiden Autorinnen die politische Wende von 1989. Claudia Rikl und Judith Hermann haben in einem ähnlichen Alter (17 und 19) die Ereignisse der Wende erlebt: Rikl in Naumburg, Hermann in West-Berlin, wo sie 1970 zur Welt gekommen und aufgewachsen ist und auch den Mauerfall erlebt hat.

Hermann, die West-Berlinerin

Ihre Gefühle waren damals sehr gemischt – mit der Angst begleitet, dass mit dem Mauerfall auch das einzigartige freie West-Berliner Milieu verschwinden könnte. Die Familie Rikl dagegen begrüßte die Öffnung der Grenzen, den Mauerfall und die Rückkehr der Freiheit. Diese unterschiedlichen Sichtweisen waren für viele Brünner Zuhörer überraschend. Judith Hermann ist Berlin bis heute treu geblieben. Kurz nach der Wende lernte sie zwei junge Tschechen kennen, die in Berlin als Straßenmusiker ihr Brot verdienten. Ihr Traum war es, einen Verlag zu gründen. Durch die beiden fand Judith Herrmann, die heute zu den führenden Autorinnen im deutschsprachigen Raum zählt, einen persönlichen Kontakt zu Brünn, der bis heute lebendig ist. Nachdem ihre Freunde – Minařík und Řehořík – ihren Traum verwirklicht hatten, vertraute sie dem Brünner Verlag die tschechische Ausgabe ihrer Bücher an. Zwischen 2000 und 2018 sind sechs Titel erschienen: zuletzt der Roman Doma (dt. Daheim), der 2021 für den Deutschen Buchpreis sowie den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Im Brünner Germanisten, Kunsthistoriker, Dramaturgen und jetzt Theaterdirektor Petr Štědroň fand Hermann ihren bewährten Übersetzer. 

Zweisprachige Textsammlung geplant

Im Rahmen des neuesten Projekts Jenseits von Prag lädt der Verlag Větrné mlýny in diesem und im nächsten Jahr zwölf prominente deutschsprachige Autoren und Autorinnen aus Deutschland und der Schweiz zu monatlichen Residenzen in zwölf Kreishauptstädte Tschechiens – mit Ausnahme der ohnehin stark besuchten Hauptstadt Prag. Entstehen soll dabei eine Erzählung, inspiriert durch das tägliche Leben der jeweiligen Stadt. Im nächsten Jahr erscheint eine Anthologie mit dem Titel Jenseits von Prag auf Deutsch beim Verlag Schöffling & Co sowie auf Tschechisch, im Verlag Větrné mlýny unter dem tschechischen Titel Minout Prahu. Die deutschsprachige Premiere erlebt der Band im Herbst 2026 bei der Frankfurter Buchmesse, wo Tschechien Ehrengast sein wird.

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 11/2025

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