Graham Hieke reiste aus Großbritannien nach Prag, um die Geschichte seiner Familie zu rekonstruieren. Sein Urgroßvater, ein sudetendeutscher Sozialdemokrat, entkam 1939 den Nationalsozialisten – mit Hilfe der heute fast vergessenen Fluchthelferin Doreen Warriner.
Ein grauer Donnerstagvormittag liegt über Prag. In der Altstadt, nur wenige Straßen vom Nationalmuseum entfernt, treffen wir Graham Hieke. Der 43-jährige Brite ist promovierter Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Kriminologie. Es ist nicht sein erster Besuch in Tschechien, die Verbindung zum Land reicht weit zurück: Sein Urgroßvater wuchs in der Nähe von Karlsbad (Karlovy Vary) auf und war aktives Mitglied der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP), bevor er 1939 nach Großbritannien floh. Nun ist Graham Hieke auf Spurensuche. Über einen lokalen Historiker in Albury, jenem Ort in Südengland, in dem viele Mitglieder der DSAP nach ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei Zuflucht fanden, kam Hieke in Kontakt mit dem in Prag lebenden Historiker Thomas Oellermann. Gemeinsam wollen sie die Geschichte der Familie Hieke rekonstruieren.

Ein Urgroßvater bei der DSAP
Emil Wenzel Hieke, Grahams Großvater, wurde 1894 in Böhmisch Wiesenthal (Loučná pod Klínovcem) im Erzgebirge geboren und war engagiertes Mitglied der DSAP. Er war ab 1931 Vorsitzender des lokalen Parteibüros und saß im Stadtrat von Fischern (Rybáře) in der Region Karlsbad. Nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 und der Annexion des Sudetenlandes durch Nazi-Deutschland war das Leben für DSAP-Mitglieder gefährlich geworden. Gemeinsam mit seiner Frau Josefine und den fünf Kindern – Wilhelm, Alois, Marianne, Leo und Viktor – floh Emil Hieke zunächst ins Landesinnere nach Sedletz-Pertschitz (Sedlec-Prčice). Später kamen sie, wie viele andere, nach Prag. Die Stadt war überfüllt. Hotels wurden zu Flüchtlingsheimen, Bahnhöfe zu Lagern, und selbst die Umkleidekabinen des Strahov-Stadions boten notdürftigen Schutz.
Doreen Warriner – eine vergessene Heldin
Unser Treffpunkt vor dem Hotel Alcron ist nicht zufällig gewählt. Zwischen Oktober 1938 und April 1939 wohnte hier Doreen Warriner. Die Britin organisierte als Leiterin des British Committee for Refugees from Czechoslovakia (BCRC) Fluchtwege für politisch Verfolgte – Juden, Tschechen, DSAP-Mitglieder und deutsche Antifaschisten. Insgesamt konnte das BCRC rund 15.000 Menschen das Leben retten. Bis vor Kurzem erinnerte eine Gedenkplakette am Hotel Alcron an Warriner. Sie fiel vor etwa einem Jahr herunter und wurde bis heute nicht ersetzt.
Nach einem kurzen Spaziergang stehen wir vor dem wenige Straßen entfernten, heutigen Vereinshaus der Buchdrucker. 1938 befand sich dort das DSAP-Parteibüro. Von hier aus wurden die nötigen Bescheinigungen zur Visumsbeantragung ausgestellt – wahrscheinlich auch für die Familie Hieke. „Doreen Warriner hat das größtenteils gemacht“, sagt Thomas Oellermann.

Im Februar 1939 gelang Emil Hieke mit einem der von Doreen Warriner organisierten Züge die Flucht – zunächst nach Polen, dann weiter über Schweden nach Großbritannien, wie Graham Hieke berichtet. Sechs Wochen später folgten ihm seine Frau Josefine und die Kinder. Die Familie fand zunächst Unterkunft im Surrey Hills Guest House, später in der Brook Lodge in Albury, Südengland. Dort lebten sie mit anderen sudetendeutschen Flüchtlingen und DSAP-Mitgliedern.
Ein Tisch voller Erinnerungen
Ein paar Straßen weiter, im Café Lucerna, breitet Graham Hieke seine Familiengeschichte auf dem Tisch aus. Sorgfältig sortiert in gelben Umschlägen, zeigt er Porträts der einzelnen Familienmitglieder, Postkarten und Briefe. Vorsichtig zieht er ein Foto von Leo, seinem Großvater, aus dem Umschlag. Das Bild zeigt ihn mit seinen Kameraden vor einem Haus in der französischen Normandie. Die geflüchteten Kinder von Emil Hieke, Leo, Alois und Wilhelm schlossen sich während des Zweiten Weltkrieges der Tschechoslowakischen Independent Armored Brigarde (CIAB) an und kämpften an der Seite der Alliierten gegen Nazi-Deutschland in Dunkirk. Alle drei überlebten den Krieg. Während Alois nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurückkehrte, blieben Leo und Wilhelm in Großbritannien. „Das hier“, sagt Graham und zeigt auf ausgeschnittene Armee Abzeichen, „haben wir in den letzten Tagen auf dem Dachboden gefunden“. Es wird deutlich, dass die Spurensuche noch längst nicht abgeschlossen ist, sondern immer mal wieder ein kleines Detail vom Leben der Familie auftaucht.

Graham nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino. Einen Moment lang ist es still. Er hatte nie mit seinem Großvater Leo über die Familiengeschichte reden können, denn er starb, als Graham vier Jahre alt war. Auch die Sprache ging verloren. Leo sprach noch Deutsch, doch Graham wuchs damit nicht mehr auf. Sein Vater David konnte die Sprache schon nicht mehr. „Ich will es lernen“, sagt Graham entschlossen. Dann fügt er hinzu: „Ich hatte schon immer eine Verbindung zu dieser Region, es ist meine Reise. Es sind zwei Seiten in mir, eine britische und eine tschechisch-deutsche.“
Für ihn steht fest: Es wird nicht sein letzter Besuch in Tschechien sein. Schritt für Schritt will er weitere Puzzleteile finden, bis das Bild seiner Familiengeschichte eines Tages vollständig ist.

Doreen Warriner (1904–1972) war eine britische Ökonomin, Humanistin und Fluchthelferin. In den Monaten nach dem Münchner Abkommen wurde sie zu einer der Schlüsselfiguren der zivilen Rettungsaktionen in der Tschechoslowakei. Zwischen Oktober 1938 und April 1939 lebte sie in Prag, wo sie die Leitung des British Committee for Refugees from Czechoslovakia (BCRC) übernahm und rund 15.000 deutschen, tschechischen und jüdischen Flüchtlingen aus dem Land half.Nach ihrer Rückkehr nach Großbritannien lehrte sie an der London School of Economics und veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Arbeiten. Erst in jüngerer Zeit wurde ihre Rolle als Fluchthelferin wiederentdeckt. Ihr wurde posthum die britische Medaille „British Hero of the Holocaust“ verliehen. In Tschechien ist sie bis heute kaum bekannt.
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