Schlange stehen für Apfelsinen? „Westmusik“ und Jeans in der Schule verboten? Hinter dem Rücken die Arme verschränken? Wie es war, im Sozialismus zu leben und in Zeiten des Sozialismus in die Schule zu gehen, das konnten die Schüler des Thomas-Mann-Gymnasiums am Freitag vor dem 30. Jahrestag des Beginns der Samtenen Revolution am eigenen Leib nachempfinden. Mit einem sogenannten Escape-Game eröffnete die Schule ihre Projektwoche zum Thema „30 Jahre Freiheit“.
Bereits am Schultor begann für die Schüler die Reise ins Jahr 1989. Auf sie wartete eine finster dreinblickende, mit Zeigestock ausgestattete Lehrerin, die die Schüler erst einmal strammstehen ließ, bevor der Unterricht beginnt. Dazu tönte die Internationale über den Schulhof. Es war der erste Vorgeschmack auf das, was sie an diesem Tag noch erwartete. Für zwei Stunden besuchten die Schüler dann den Unterricht, wie ihn damals deren Eltern noch erlebt haben dürften, mit allem was dazugehörte: die Hände hinter dem Rücken verschränkt, um Zappeln zu vermeiden, keine systemkritischen Meinungsäußerungen, ein strenger Unterrichtsstil und allgegenwärtig die Ideologie des Sozialismus. Zwischendurch musste sich eine Schülerin, die mit Jeans in die Schule gekommen war, im Lehrerzimmer melden und erklären. Nach Hause geschickt – wie damals üblich – wurde sie dann doch nicht. In der Pause versammelten sich alle auf dem Schulhof und ein als Václav Havel verkleideter Schüler hielt eine Ansprache. Plötzlich trieben Uniformierte – Kräfte der tschechoslowakischen Geheimpolizei (StB) – die Menge auseinander: Das Escape-Spiel begann.
Ein Escape-Game ist ein Spiel, bei dem Gruppen in einer vorgegebenen Zeit zusammen Aufgaben lösen müssen, um einen Raum, in den sie eingeschlossen sind, verlassen zu können. Sie werden zu allen denkbaren Themen angeboten: von der Flucht aus dem Gefängnis, über Schatzsuchen bis hin zur Zombie-Apokalypse. Längst wurde auch das pädagogische Potenzial von Escape-Rooms entdeckt, und so war es das Ziel des Spiels am Thomas-Mann-Gymnasium, dem Kommunismus zu entkommen und in die Zeit nach 1989 zurückzukehren. Dazu mussten die Schüler in Gruppen jeweils zehn verschiedene Aufgaben lösen, die mit dem Leben im Sozialismus und der Samtenen Revolution zu tun hatten. Für jede gelöste Aufgabe bekamen die Gruppen einen Schlüssel. Mit zehn Schlüsseln ließ sich schließlich das Tor zur Samtenen Revolution und in die Freiheit öffnen.
In einem Klassenzimmer war ein Lied von Karel Gott zu hören. Eine der Aufgaben bestand darin, sich Musik aus einem alten, aus den 60er Jahren stammenden Radio anzuhören und zu entscheiden, ob diese Musik damals verboten oder erlaubt war. In einem anderen Klassenraum mussten die Schüler die Gebote der Pioniere auswendig lernen und bekamen beigebracht, wie man das Pionierhalstuch richtig umbindet. Währenddessen musste ein anderer Teil der Gruppe zum Lehrerzimmer und Apfelsinen kaufen, aber das dauerte, denn dafür musste man sich erst einmal in der Schlange anstellen. Zudem war in der ganzen Schule der StB unterwegs, der die Schüler beobachtete und darauf achtete, dass sich niemand negativ über den Kommunismus äußerte. Wer es doch tat, kam ins Gefängnis auf dem Schulhof oder musste selbst der Geheimpolizei beitreten.
Die Aufgaben verlangten von den Schülern Geschichtskenntnisse, Kreativität und Einfallsreichtum sowie nicht zuletzt die Fähigkeit, gemeinsam in der Gruppe zu kooperieren. „Die Schüler sollen sich hineinfühlen können in den damaligen Schulalltag“, erklärte Jitka Neradová, die am Thomas-Mann-Gymnasium Geschichte unterrichtet und das Spiel zusammen mit den Schülern der zwölften Klasse und einzelnen Schülern aus niedrigeren Klassenstufen vorbereitet hat. Sie sollten Persönlichkeiten aus der Zeit vor 1989 und danach kennenlernen, den Lebensstandard von vor und nach der Wende vergleichen und auch das Gefühl mitbekommen, dass man im Sozialismus ständig unter Beobachtung stand. Die Vorbereitung des Spiels habe etwa eine Woche gedauert und sei gar nicht so einfach gewesen, erzählt Christian (18), Schüler der 12. Klasse, der das Spiel moderierte und dafür sorgte, dass alle Kinder motiviert mitspielen und sich an die Regeln halten. Das Escape-Game war nicht das erste Projekt dieser Art am Thomas-Mann-Gymnasium. „Auch zum 100. Republikgeburtstag im letzten Jahr kamen alle Lehrer verkleidet zur Schule und unterrichteten wie vor 100 Jahren“, sagte Jitka Neradová.
Am Ende des Spiels versammelten sich wieder alle Schüler auf dem Schulhof. Die Gruppen haben alle zehn Schlüssel erkämpft und es beginnt die Samtene Revolution: Die sowjetische Fahne, die aus einem Fenster des Schulhauses hängt, wird eingeholt, die Schlüssel werden aus den Taschen gekramt und alle singen zusammen das Lied „Modlitba pro Martu“ („Gebet für Marta“) der Sängerin Marta Kubišová und die tschechische Nationalhymne. Den Kindern bereitete diese Form des interaktiven Geschichtsunterrichts großen Spaß, aber sie waren am Ende auch froh, dass es nur ein Spiel war.