Am 21. April findet der alljährliche Gedenktag der Opfer des Holocaust erstmals online statt – mit dem „Gesicht“ von Charlotte Tochová, einer deutschen Jüdin mit tragischem Schicksal.
Die traditionelle Aktion zum Gedenken der Opfer des Holocaust „Yom haSho`a“ („Jom Ha Šoa“) – die öffentliche Verlesung der Namen der Todesopfer der Shoa auf dem Gebiet der damaligen Tschechoslowakei – kann in diesem Jahr aufgrund der Corona-Pandemie nicht wie gewohnt auf den Straßen, Plätzen und in Synagogen Tschechiens stattfinden. Stattdessen wird die Verlesung live im Internet und in sozialen Medien übertragen. Außerdem gibt es bei der Veranstaltung, die jedes Jahr vom Institut der Theresienstädter Initiative (Institut Terezínské iniciativy) organisiert wird, diesmal eine weitere Besonderheit: Zum ersten Mal wurde eine deutschsprachige Jüdin – Charlotte (Šarlota) Tochová – mit ihrem Schicksal zum „Gesicht“ der Veranstaltung gewählt.
Das tragische Schicksal von Charlotte Tochová und ihrer Familie
Da Charlotte Tochová keine bekannte Persönlichkeit war, wissen wir über ihr Leben nicht viel, allein aus behördlichen Dokumenten lassen sich einige Eckpunkte aus ihrem Lebensweg nachvollziehen. Charlotte wurde demnach am 3. Februar 1905 in Berlin geboren, wo sie auch ihren zukünftigen Ehemann Arnošt, einen Geschäftsmann aus der Tschechoslowakei, kennenlernte. Durch die Eheschließung erlangte sie zwar die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, aber das Paar verblieb zunächst in Berlin, wo die beiden Töchter Jana (genannt Hansi) (geb. 1925) und Eva Františka (geb. 1933) zur Welt kamen. Zwischen den Jahren 1933 und 1936 emigrierte die junge Familie nach Prag, in die zu diesem Zeitpunkt noch „freie“ Tschechoslowakei. Ihr bis dahin vielleicht noch ruhiges Leben endete spätestens mit der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im März 1939. Viele politische Gegner der Nationalsozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten und eine große Anzahl Juden wurden verhaftet. Die Familie Tochov wurde getrennt: Arnošt wurde zur Zwangsarbeit nach Jungfern Breschan (Panenské Břežany) verschleppt. Dort hatte der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Konstantin von Neurath und ab 1941 sein Nachfolger Reinhard Heydrich mit Familie seinen Wohnsitz. Für welche Arbeiten Arnošt dort eingesetzt wurde, ist nicht überliefert. Im September 1942 wurde Arnošt von Jungfern Breschan nach Theresienstadt (Terezín) deportiert, wo sich bereits seit Juli 1942 seine Frau Charlotte mit den beiden Töchtern befand. Im Herbst 1944 wurde die Familie von dort – wieder getrennt – nach Auschwitz deportiert. Charlotte und die beiden Töchter wurden dort ermordet und Arnošt – offenbar noch arbeitsfähig – wieder verlegt. Seine Spur endet im KZ Dachau, dort starb er am 24. Januar 1945.
„Identität“ als Rahmenthema des Gedenktags
Zum diesjährigen Rahmenthema der Aktion wurde „Identität“ gewählt. Die Organisatoren vom Institut der Theresienstädter Initiative stellen Fragen, auf die die amtlichen Dokumente – oft die letzten Spuren der Opfer – keine Antwort geben. Fühlte sich Charlotte als Deutsche? Als Jüdin? Als Bürgerin der Tschechoslowakischen Republik? Wie nahm sie ihre Rolle als Mutter und Ehefrau wahr? Klarheit gibt es nur bei einer Sache – sie war ein Mensch und ein unschuldiges Opfer des Holocaust.
Situation der deutschsprachigen Juden in der Tschechoslowakei
Bei der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren lebten auf diesem Gebiet etwa 120.000 Juden (inkl. Sudetenland). Deutschsprachige Juden machten ungefähr die Hälfte davon aus (z.B. in Prag ca. 46 Prozent). Eine großer Teil der tschechoslowakischen Juden war zudem zweisprachig und übte eine kulturelle Mittlerfunktion zwischen der deutschen und tschechischen bzw. slowakischen Volksgruppe aus. Die antisemitische Gesetzgebung, der Verlust der Bürgerrechte und die Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager betraf sie genauso wie alle anderen jüdischen Einwohner. Ein Paradoxon der Geschichte bleibt, dass die wenigen überlebenden deutschsprachigen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg den gleichen Restriktionen und Erniedrigungen ausgesetzt waren wie die restliche deutschsprachige Bevölkerung der Tschechoslowakei. Einige Dutzend wurden ebenso vertrieben – und das alles lediglich, weil sie sie bei der Volkszählung 1930 Deutsch als ihre Muttersprache angegeben hatten. Durch ein Sonderdekret wurde die Vertreibung deutschsprachiger Juden im September 1946 zwar gestoppt, doch das deutsche kulturelle Umfeld war zerstört.
Aufgrund der überaus restrikitiven Minderheitenpolitik verließen die meisten Überlebenden in den Nachkriegskahren die Tschechoslowakei, nur etwa 2.000 deutschsprachige Juden verblieben im Land. Heute leben nach Angaben der Jewish Virtual Library etwa 3.900 Juden in Tschechien. Bei der Volkszählung 2011 bekannten sich 1.132 Personen in Tschechien zum Judentum im rein religiösen Sinne. Im heutigen Tschechien gibt es zehn selbstständige jüdische Gemeinden, allerdings gibt es keine deutsch-jüdische Gemeinde. In vielen jüdischen Familien ist es aber nach wie vor Tradition, Deutsch zu sprechen.
Die Verlesung der Namen der Holocaust-Oper findet in diesem Jahr am 21. April von 14 bis 17 Uhr statt. Auf der Webseite www.terezinstudies.cz und in sozialen Medien kann man die Veranstaltung verfolgen.
Die Autorin ist Direktorin des Multikulturellen Zentrums Prag,
Aus dem Tschechischen von Manuel Rommel