Hanna Zakhari, Leiterin des Begegnungszentrums in Brünn (Brno) erinnert sich an eine weihnachtliche Geschichte aus ihrer Jugendzeit.

Als es vor vielen Jahren in meiner Kindheit in Brünn und Mähren noch südlich warme Sommer gab, in denen Mandeln, Pfirsiche und Aprikosen gediehen, gab es auch Winter mit Bergen von Schnee, um die uns gelegentlich sogar alpine Hochtäler beneiden konnten. In einem dieser Winter, kurz vor den Weihnachtsfeiertagen, erklärte mir meine Mutter: „Du hast eine neue Tante. Und auch einen Onkel, den du bisher nicht kennst, und die beiden haben zwei Kinder ungefähr in deinem Alter. Und sie alle kommen für ein paar Tage zu uns, um mit uns Weihnachten zu feiern.“

Natürlich gab es keine „richtig neue“ Tante. Nur lebte die Familie in Wien und wir in Brünn und dazwischen lagen Welten – und der Eiserne Vorhang. Ich war schon 14 und kannte unsere Familienmitglieder nur aus Briefen, die einen in Wien, die anderen in Deutschland. Die Tante war die Cousine meiner Mutter, ihre Mutter die Schwester meiner Großmutter – nur wusste man in den Jahren nach dem Krieg lange nicht, wo die einen oder anderen „geblieben“ sind.

Am Tage vor Weihnachten schneite es heftig. Das Haus meiner Eltern stand in einem der Brünner Vororte, oder besser „Vordörfer“, ganz am Ende einer abschüssigen Straße, danach kamen nur Felder. Natürlich gab es keine Handys, um sich ständig über den Reisefortschritt zu informieren, die Eltern machten sich Sorgen. Es dauerte bis zum späten Abend, als die Familie mit ihrem kleinen VW Käfer ankam, nicht so sehr wegen der Wetterverhältnisse, eher wegen der mehrfachen und gründlichen Kontrolle aller Pässe und Visa, Dokumente und Papiere, was zu Wartezeiten an der Grenze und sonstiger, damals üblicher Unbill führte, auf einem Weg, der heute eineinhalb Stunden dauert.

Sie brachten ein Auto voller wunderbarer Dinge mit, die im sozialistischen Paradies damals nahezu unbekannt waren. Orangen, Bananen, schöne große und rote Äpfel, Mandarinen, Dosenananas. Praktisch, wie meine Tante war, packte sie auch einen großen Schweinebraten aus – zur Freude meiner Eltern, denn von einem richtigen Schweinebraten konnte man damals auch nur träumen – die Brünner Markthalle strahlte auch vor Weihnachten von leeren Marktständen und auch sonst gab es kaum etwas zu kaufen.

Die Frauen zogen sich zurück in die große Küche und kochten und schwatzten, die Herren, also mein Vater und mein Onkel, saßen im Wohnzimmer und ordneten die Weltpolitik, wobei sie rauchten – Zigaretten unbekannter Nobelmarken, die ebenfalls unsere Gäste mitbrachten. Und dazwischen schmückten wir alle durcheinander den Weihnachtsbaum und mein Cousin spielte nebenan Klavier. Er konnte so ziemlich alle Schlager, die wir uns wünschten, interpretieren, die Zeit verging im Fluge.

Am Abend verteilte mein Vater die Schlafstätten. „Deine Cousine und du werden auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Das Sofa kann man ausziehen und Platz für zwei Mädchen ist genug.“ Und so schwatzten wir beide bis lange in die Nacht hinein. Es hatte den Vorteil, dass wir in den Weihnachtstagen beim Einschlafen direkt auf den Weihnachtsbaum gucken konnten und ich eine Menge unbezahlbarer Ratschläge – original aus Wien – bekommen konnte: „Weißt Du“, sagte meine Cousine, „wir Mädchen tanzen in der Schule in der Pause immer Rock ’n’ Roll.“ „Ja, wie denn?“ „Du musst nur einen langen Schal nehmen, ihn an der Türklinke festbinden und schon kannst du die tollsten Figuren drehen, wie die Erwachsenenpaare im Kino.“ Später versuchte ich das bei Radiomusik, wenn die Eltern wieder einmal nicht zu Hause waren, es funktioniert prima.

Als am nächsten Tag der Weihnachtsabend nahte, sagte mir mein Vater, ich solle nach oben gehen, also in das obere Stockwerk des Hauses, und dort bleiben, bis man mich ruft. Ich verstand nicht, warum. „Ich bin doch schließlich kein Kind mehr und außerdem ist meine neue Cousine ohnehin auch noch zwei Jahre jünger. Wieso ich und nicht die?“ Aber widersprechen war nicht. Ein paarmal versuchte ich mich leise herunterzuschleichen, wurde aber jedes Mal entdeckt und wieder zurückgeschickt.

Endlich durfte ich herunterkommen und die Tür zum Weihnachts-Wohnzimmer öffnete sich. Dass der Weihnachtsbaum strahlte und darunter viele Päckchen lagen, wusste ich ja schon, nur – was war das? Da thronte ja eine richtige Prinzessin! Die Prinzessin war eine Puppe von einer Größe, die ich noch nicht einmal im Schaufensterladen des einzigen Brünner Geschäfts mit Spielsachen je gesehen hatte. Und ich untersuchte das Schaufenster immer sehr gründlich. Sie hatte ein weißes Kleid an, dass sich wie ein Kreis um sie legte, eine rosarote durchsichtige Pelerine und rabenschwarze, kunstvoll hochgesteckte Haare mit Blumen darin. Ich guckte wohl ein wenig verblüfft und kann mich nur noch an die fröhliche Stimmung der ganzen umstehenden Familie erinnern, als sie mich beobachtete. Sie dauerte minutenlang, bis ich mir traute, das zerbrechliche Ding überhaupt in die Arme zu nehmen. Und dabei stellte ich fest, dass die Puppe auch noch die Augen schließen und öffnen konnte. Ich gab ihr den schönsten Namen, den ich damals zu hören bekam: Patricia.

In den nächsten Tagen erzählten die Erwachsenen, die Puppe stamme aus Italien. Die Wiener Familie machte dort regelmäßig Urlaub. In den vielen Strandläden sahen sie einmal diese Schönheit und alle waren sich einig: „Die nehmen wir Weihnachten mit nach Brünn.“

Nach einigen Tagen fuhr die Familie meiner Tante zurück, alle Familienmitglieder halfen, das Auto durch den Schnee zu schieben, bis es an Fahrt gewann. Patricia thronte ab da Tag und Nacht an meinem Bett.

Es waren schöne Weihnachten, wie im Bilderbuch, ein richtiges Familientreffen, welches es vorher und nachher kaum mehr gab. Wie auch – in einer durch die Nachkriegszeit zerrissenen Familie.

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