Eine neue Perspektive auf die Vertreibung der Sudetendeutschen eröffnete ihrerzeit die in Wichstadtl (Mladkov) geborene deutsche Schriftstellerin Gudrun Pausewang. Im Sommer erschien eine tschechische Übersetzung ihrer Erinnerungsbücher „Geliebte Rosinkawiese“ sowie „Fern von der Rosinkawiese“ – zusammengefasst in einem Band. Übersetzer Vojtěch Terber erinnert sich an die Entstehungsgeschichte dieses Buches als eine Brücke der deutsch-tschechischen Versöhnung.

Nur wenigen Menschen in Tschechien ist der Name Wichstadtl ein Begriff. So hieß früher, vor der Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung, das heutige Städtchen Mladkov im Adlergebirge, zehn Kilometer von Kralíky (Grulich) gelegen. Auch ich konnte mit dem Namen lange Zeit nichts anfangen – doch seit der Begegnung mit den Büchern von Gudrun Pausewang ist mir dieser Ort vertraut.

Die bekannte deutsche Schriftstellerin Gudrun Pausewang (1928-2020) war eine gebürtige Wichstadtlerin und ihrer Heimat stets eng verbunden. Anfang Juli dieses Jahres wurde in Wichstadtl das Buch „Vzpomínám na Rozinkovou louku“ vorgestellt – die tschechische Übersetzung ihrer in einem Band zusammengefassten Erinnerungsbücher „Geliebte Rosinkawiese“ und „Fern von der Rosinkawiese“. Ein Buch, das uns anhand spannend erzählter persönlicher Erlebnisse das Leben und die Schicksale der Sudetendeutschen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg näherbringt. 

Im Gegensatz zu meinen Kindern lernte ich Frau Pausewang nicht als Autorin düsterer Anti-Atom-Romane („Die Wolke“), sondern als eine mitreißende Erzählerin kennen, die auch mir geholfen hat, die sudetendeutsche Problematik in einem anderen Licht zu sehen. Meiner Entdeckung ihrer Werke ging allerdings ein schockierendes Erlebnis im Januar 1970 voraus: Nachdem ich 1969 einsah, dass mir das neue Regime mein politisches Engagement während des Prager Frühlings auf keinen Fall nachsehen würde, nutzte ich die letzte Gelegenheit, verließ meine Heimat, landete in Westdeutschland – und meldete mich zu einem Deutschkurs in einer Augsburger Sprachschule an. Wie alle Kursteilnehmer sollte ich in einer deutschen Familie untergebracht werden. Ich wartete auf den Kursleiter, Herrn Pittner, der mich zu meiner Gastfamilie bringen wollte. Er kam und teilte mir verlegen und zerknirscht mit, dass es die Familie kategorisch ablehne, einen Tschechen bei sich aufzunehmen. Gekränkt bat ich um eine Erklärung, die er mir nur zögerlich gab. Es handelte sich um vertriebene Sudetendeutsche, die sich im Mai 1945 angeblich ansehen mussten, wie der Familienvater, sein fünfzehnjähriger Sohn und der Opa auf ihrem Bauernhof in Böhmen von den Tschechen bestialisch ermordet wurden. Ich glaubte Herrn Pittner kein Wort. Ich versuchte ihm zu erklären, dass die Abschiebung der Deutschen eine harte, aber gerechte Strafe gewesen sei – aber dass es dabei niemals Morde gab. Herr Pittner verstand mein Gestottere, schüttelte langsam den Kopf: „Doch, solche Dinge passierten, leider.“ 

Dieses Erlebnis ließ mir keine Ruhe, ich ging der Sache nach – und fand die Antworten in der Buchhandlung „Am Dom“ in Köln: Dort stand ich stundenlang vor dem Regal mit acht dicken Bänden der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa“ und las mich durch die Aberhunderte von Zeugenberichten: Herr Pittner hatte nicht gelogen, „solche Dinge“ passierten tatsächlich. Die Barbarei des Naziregimes mit barbarischen Gräueltaten zu rächen – das war nicht nur ein Verbrechen Einzelner: Das Geschehene wurde damals stillschweigend geduldet, nie bestraft und danach die ganze Nation belogen und der Hass gegen Sudetendeutsche weiter geschürt. Auch das gehört zur langen Liste von Taten, mit denen sich das damalige Regime auf die gleiche Stufe mit anderen menschenverachtenden Herrschaftssystemen gestellt hatte. 

Ich fühlte mich betrogen, mich packte eine wilde doch ohnmächtige Wut, denn ich konnte nichts dagegen machen. Da es jedoch Autoren gab, die über die Vertreibung in Büchern berichteten, nahm ich mir vor, eines von diesen Werken ins Tschechische zu übersetzen und es dann in den tschechischen Samizdat zu schmuggeln oder in einem Exilverlag in Toronto erscheinen zu lassen. Doch das erwies sich schwieriger, als gedacht: Viele Texte waren zu einseitig und einige der angesprochenen Autoren lehnten ab oder reagierten nicht.

Erst nach der Wende, als ich die Bücher von Gudrun Pausewang entdeckte, bot sich mir eine echte Gelegenheit. Erinnerungen und Berichte über das Leben der Deutschen im Sudetenland, das so ähnlich, fast identisch mit dem Leben der Tschechen war und – das Wichtigste – alle Schilderungen waren in einem versöhnlichen, liebevollen, wenn auch gleichzeitig äußerst selbstkritischen Ton geschrieben. Endlich fand ich Texte, die sich dieser Thematik aus der Sicht der Vertriebenen widmeten, ohne die ganze Schuld einzig bei der tschechischen Seite abzuladen. Nur ein in solchem wohlwollenden Geist gehaltenes Buch hatte damals eine Chance, tschechische Leser zu erreichen, sie zum Nachdenken zu bringen und so zu einer dringend notwendigen Aufklärung und Versöhnung beizutragen. 

Über den Verlag erfuhr ich die Adresse der Schriftstellerin und schilderte ihr in einem Brief mein Vorhaben. Sie lud mich und meine Frau zu sich ein: Wir führten ein langes, gutes Gespräch– aber ich spürte, dass ihr mein Vorschlag nicht ganz behagte. Die Idee und ihre Begründung fand sie zwar sehr gut, aber so ein wichtiges Projekt einem völlig unbekannten Menschen anzuvertrauen, war ihr wohl doch zu riskant. Da schaltete sich meine liebe Frau ein. Ich arbeitete zwar seit Jahrzehnten als Übersetzer und führte ein gut laufendes Übersetzungsbüro – aber bei dem Plädoyer und den Lobeshymnen, die jetzt meine Frau auf mich sang, wurde ich fast rot. Doch es half – ich bekam die Zustimmung, durfte mit Frau Pausewangs Verlag verhandeln und in dessen Namen einen tschechischen Herausgeber suchen. Nach monatelangem Suchen fand ich das Verlagshaus Aurora in Prag, das bereit war, das Buch zu verlegen.

Und so erschien im Jahr 2001 die erste Ausgabe von „Vzpomínám na Rozinkovou louku“. Die Auflage von 2000 Stück war innerhalb von wenigen Wochen vergriffen – aber meine Bemühungen, den Aurora-Verlag dazu zu bewegen, eine zweite Auflage herauszugeben waren leider erfolglos: Es wurde angedeutet, dass die Zeit noch nicht reif ist, um sich mit solchen sensiblen Fragen zu intensiv auseinanderzusetzen. 

Umso erfreulicher fand ich die Initiative des Wichstadtler Bürgermeisters, das Buch neu aufzulegen. Der Gedanke einer tschechisch-deutscher Versöhnung ist nach wie vor aktuell. Das neu erschienene Buch „Vzpomínám na Rozinkovou louku“ ist kein großer, aber ein richtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Toleranz und Frieden in Europa.

„Vzpomínám na rozinkovou louku“ von Gudrun Pausewang (ins Tschechische übersetzt von Vojtěch Terber). Městys Mladkov, 2024. 238 Seiten, Preis: 400 kč. Erhältlich beim Gemeindeamt Mladkov oder unter podatelna@mladkov.cz.

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 9/2024

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