Mit seinen Starken Armen trägt Rübezahl den Baum zum Schloss Credit: Rübezahl – Sagen und Legenden um den Herrn des Riesengebirges. Verlag Carl Ueberreuter, Wien – Heidelberg, 3. Auflage 1954

Am Fuße des Riesengebirges lebte auf seinem Schloss ein reicher, angesehener Edelmann, dem Land und Leute weithin untertan waren. Der Schlossherr war ein finsterer Mann und die leibeigenen Bauern, die harten Frondienst leisten mussten, zitterten, wenn sie vor den Herrn gerufen wurden.

Eines Tages trat ein altes Bäuerlein, dessen Weib schwerkrank allein in der Hütte lag, mit schlotternden Knien vor den finster blickenden Herrn und bat schüchtern: „Herr, erlass mir für heute die Arbeit, mein Weib liegt todkrank im Bett und hat keinen Menschen außer mir, der ihr die notwendige Pflege tut.“ Mit verächtlichem Blick streifte der Schlossherr seinen Untertanen und knurrte in höhnischen Ton: „Faules Pack, diese Ausreden kennen wir schon. Willst dich von der Arbeit drücken, aber da bist du an den Unrechten geraten. Pack dich und geh in den Wald an die Arbeit! Fälle mir dort die große Eiche und bring sie noch heute, aber sauber in Stücke geschnitten, hierher auf den Hof.“

Erschrocken hörte der Bauer den Befehl seines Herrn. Er wusste, dass es unmöglich war, den mächtigen Baum an einem Tag zu fällen und zu verkleinern. Inständig bat er den Junker, ihm für diese Arbeit zwei Tage Zeit zu lassen. Aber der hartherzige Edelmann schrie das zitternde Bäuerlein grimmig an und drohte ihm mit den härtesten Strafen, falls er die Arbeit verweigern wolle.

„Und wenn du nicht augenblicklich fortscherst“, schloss er sein wüstes Geschimpfe, „und dich an deine Arbeit machst, soll dir meine Peitsche um die Ohren pfeifen. Heute Abend aber hat der gefällte Baum, zerkleinert und geschichtet, hier im Hof zu liegen!“

Mit hängenden Schultern schlich der Bauer in den Wald und stieg zu dem Platz hinan, wo die Eiche stand. Es war ein uralter Baum, dessen Stamm mehrere Männer nicht umfassen konnten. Was mochte der gewaltige Baumriese wohl schon alles erlebt haben! Ihn an einem Tag zu fällen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Trübsinnig setzte sich der Bauer auf eine der starken Wurzeln des Baumes und starrte vor sich hin. Er wusste sich keinen Rat. Je länger er den riesigen Stamm, die mächtigen Äste betrachtete, desto hoffnungsloser wurde sein Blick. Was sollte er tun?

Plötzlich vernahm der niedergeschlagene Mann schwere Tritte, und ein lustiges Pfeifen drang an sein Ohr. Als er sich umwandte, sah er einen kräftigen Holzfäller mit geschulterter Axt auf sich zukommen. Der Mann blieb vor dem Bauern stehen, musterte das Häuflein Unglück, das da auf der Baumwurzel saß, mit scharfem Blick, und ein leichtes Lächeln zog über sein freundliches Gesicht.

„Nun, mein bester“, redete er die Jammergestalt an, „warum machst du ein so betrübliches Gesicht, als hätten die die Hühner das Brot weggefressen?“ Der arme Teufel, dem es eine Wohltat war, sich das Herz zu erleichtern, klagte dem Fremden seine Not. Er schüttete dem teilnehmenden Frager sein ganzes Herz aus, jammerte über die Krankheit seines Weibes, das nun allein und verlassen in der Hütte liege, beklagte sich bitter über die Grausamkeit des hartherzigen Schlossherrn und schloss, indem er auf die stattliche Eiche hinwies: „Und diesen Baum befahl mir der Herr heute noch zu fällen und zu zerkleinern. Seht ihn mal an, wie mächtig er ist: Kein Mensch ist imstande, ihn an einem Tag umzuhauen.“

Aufmerksam hörte der fremde die Klagen des Bäuerleins an, tröstete ihn und sagte schließlich: „Und nun verliere den Mut nicht: Geh sogleich nach Hause zu deiner kranken Frau und pflege sie! Du kannst die Sache mit dem Baum ruhig mir überlassen. Es wird alles recht werden.“ Der Bauer wollte sich für die ermunternden Worte seines Trösters bedanken, doch dieser schnitt ihm das Wort ab und trieb ihn zu Eile. So trabte denn das eben noch verzweifelte Bäuerlein frohgemut mit raschen Schritten seiner Hütte zu. Ein sonderbares Gefühl sagte ihm, dass er seinem unbekannten Helfer vertrauen könne, und erfüllte ihm mit Mut und Zuversicht über den Ausgang dieser scheinbar hoffnungslosen Sache.

Als der Bauer hinter den Bäumen verschwunden war, trat der freundliche Holzfäller an den Eichbaum heran, griff mit beiden Händen in das Astwerk des ungeheuren Baums und riss diesen mit einen Ruck aus dem Boden. Dann wuchs die Gestalt des fremden zu riesenhafter Größe empor: Seine starken Arme umschlagen den Stamm der Eiche und luden den Baum, wie er war, samt Wurzeln und Äste auf seinen breiten Rücken. Es war ein furchterregender Anblick, als der Riese mit der ungeheuren Last auf dem Rücken gemütlich dem Schloss zuschritt, und seine Bürde vor dem Schlosstor niederwarf und weit ausholend wieder dem Walde zuschritt. Der breitästige Baum aber lag vor dem Eingang zum Schloss und versperrte jeden Zutritt, so dass man weder aus- noch eingehen konnte.

Schreckensstarr hatte der Junker mitangesehen, was sich vor dem Tor seines Schlosses begab. Nun befahl er zornbebend, den Baum aus dem Weg zu räumen und den Eingang wieder frei zu machen. Doch vergebens hieb das Gesinde auf den Baum ein. Als eisenhart erwiesen sich Rinde und Holz: Keine Axt war imstande, ihm beizukommen.

Schließlich blieb dem Schlossherrn nichts übrig, als an einer anderen Stelle der Mauer ein neues Tor auszubrechen, was mit viel Arbeit, Kosten und Ärger verbunden war. Doch soll, so erzählt man, die Geschichte mit dem Baum für den Schlossherrn eine Warnung gewesen sein, so dass er in Zukunft bemüht war, seine Leute milder und gerechter zu behandeln.

Quelle: Rübezahl – Sagen und Legenden um den Herrn des Riesengebirges. Verlag Carl Ueberreuter, Wien – Heidelberg, 3. Auflage 1954

Zusammengetragen von Irene Kunc


Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Februar-Ausgabe 2023.

Titelseite LE 2/2023

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