Sechs Familien, zahlreiche Rezepte, viele Erinnerungen: Harald Saul sammelt in seinem neuen Buch kulinarische Traditionen aus Böhmen und erzählt dabei auch die Geschichten dahinter.
Mit „Neue Geschichten & alte Rezepte aus der Sudetendeutschen Küche“ legt Harald Saul ein Werk vor, das mehr ist als ein gewöhnliches Kochbuch. Es verbindet Rezepte und regionale Kochkunst mit persönlichen Erinnerungen und Einblicken in das Leben sudetendeutscher Familien. Wer sich für die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Schlesien interessiert, wird in diesem Buch viel entdecken. Saul, geboren 1955 im südthüringischen Sonneberg, seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Sammler von Rezepten, versteht es, kulinarisches Wissen mit gelebter Geschichte zu verweben. In sechs Familiengeschichten führt er die Leserinnen und Leser in verschiedene Orte Böhmens – von kleinen Dörfern bis zu bekannten Kurorten – und öffnet damit nicht nur Türen zu Küchen, sondern auch zu den Biografien der Menschen, die dort lebten. Zu jeder Familiengeschichte gehören Rezepte, handschriftliche Notizen, historische Fotografien, abfotografierte Rezeptbücher und persönliche Erinnerungen der Nachkommen. Erschienen ist das Buch im Verlag Tschirner & Co., der sich auf Werke mit regionalhistorischem und kulturellem Bezug spezialisiert hat. Nach zwei Vorgängerbänden zu traditionellen Rezepten aus Nordböhmen und dem Egerland ist dies bereits das dritte Buch dieser Art im Programm. Verleger Jürgen Tschirner betont die besondere Bedeutung dieser Veröffentlichungen: „Ein Kochbuch mit historischen Familiengeschichten aus der sudetendeutschen Region bringt ein Stück Heimat zu den Vertriebenen und deren Nachkommen.“
Fast vergessene Gerichte
Schon beim Lesen der ersten Seiten hat man das Gefühl, man sei Gast bei einem sonntäglichen Mittagessen, mitten unter den Familien, irgendwo zwischen Sonntagsbraten und Erinnerungen an alte wie auch schwere Zeiten. Die Lebenswege der Familien, die das Buch erzählt, sind nicht beschönigt, sondern authentisch und tiefgründig – oft durchzogen von Krieg, Vertreibung und Neuanfang. Es ist diese Geschichtlichkeit, die dem Buch Tiefe verleiht und es weit über die Funktion eines Rezeptsammlers hinaushebt.
Kochbücher gibt es viele. Aber nur wenige vermitteln ein Gefühl dafür, welche Bedeutung gemeinsames Kochen und Essen für die Familien hat – damals wie heute. Genau das tut dieses Buch. Ob „Deftige Gulaschsuppe nach Oma“ oder „Pflaumenknödel nach Neuwallisdorfer Art“ – jedes Gericht ist Teil einer Erzählung, verankert in persönlichen Erinnerungen, regionalem Brauchtum und historischen Kontexten. Viele der Gerichte kamen früher ganz selbstverständlich auf den Tisch, sind heute aber etwas in Vergessenheit geraten – wie Lamm- und Kaninchengerichte, Eintöpfe mit Butterschmalz oder die kleinen Mehlspeisen, die nachmittags zum Kaffee gereicht wurden. Besonders sind die vielen historischen Dokumente und Bilder, die das Buch begleiten. Man sieht Gesichter aus anderen Zeiten, eingerahmt von der Atmosphäre ihrer Herkunft: Häuserfassaden, Kücheninterieurs, handbeschriebene Rezeptblätter, Karten. Vor allem für Menschen mit Wurzeln in der Region ist das Buch von
besonderem Wert.
Keine Küchenakrobatik
Trotz der liebevoll erzählten Geschichten und der atmosphärisch dichten Gestaltung gibt es kleinere Punkte, die das Lese- und Kocherlebnis noch abrunden könnten. So fehlen bei einigen Rezepten Angaben zur Portionsgröße, was beim Nachkochen eine Orientierungshilfe wäre. Auch die Wiederholung einzelner Rezepte, wie etwa des
Kleckselkuchens, fällt im ansonsten sorgfältig zusammengestellten Gesamtbild leicht auf. Trotzdem bleibt der Gesamteindruck positiv. Die Rezepte sind einfach gehalten, keine Küchenakrobatik, sondern ehrliche Haus-
mannskost. Arbeits- und Kochzeiten sowie Gesamtzeiten sind stets angegeben, was die praktische Umsetzung erleichtert. Zwar dominieren Fleischgerichte, doch finden sich auch vegetarische Optionen – und viele Fleischgerichte lassen sich mit etwas Kreativität fleischlos abwandeln, ohne an Charakter zu verlieren. Was „Neue Geschichten & alte Rezepte aus der Sudetendeutschen Küche“ so besonders macht, ist seine emotionale Dichte. Dieses Buch lässt die Küche sudetendeutscher Familien wieder aufleben und erinnert an die Menschen, die diese Gerichte geprägt haben. Es zeigt, wie kulinarische Traditionen auch nach historischen Umbrüchen weitergegeben werden können. Wer mehr sucht als eine Rezeptsammlung, wird in diesem Buch fündig: als Leser, als Nachfahre, als Heimatverbundene oder schlicht als Mensch mit Sinn für Geschichte und Genuss.

Harald Saul: Neue Geschichten & alte Rezepte aus der Sudetendeutschen Küche, ISBN: 978-3-9825526-6-8, 156 Seiten, Hardcover, Verlag Tschirner & Co. Preis: 35,00 Euro zzgl. Versandkosten. Foto: Verlag Tschirner & Co. Hier erhältlich: https://www.tschirner-co.de/produkte/neue-geschichten-und-alte-rezepte-aus-der-sudetendeutschen-kueche
Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 6/2024
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