Am vergangenen Wochenende begab sich die deutsche Minderheit in Tschechien auf die Suche nach sich selbst und fand sowohl akademische als auch kulturelle und visuelle Antworten.

„Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?‟, fragte vor einigen Jahren ein in Deutschland populärer Buchtitel. Ein mancher mag bei der Frage nach der eigenen Identität müde mit der Schulter zucken, für Angehörige nationaler Minderheiten ist es eine ganz zentrale, aber bei näherer Betrachtung nicht einfach zu beantwortende Frage. Schon gar nicht für die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik. Bin ich deutsch, deutsch-tschechisch, deutsch-böhmisch, sudetendeutsch, ein Tscheche mit deutschen Wurzeln oder bin ich nicht an erster Stelle einfach ein Erzgebirger, Egerländer oder Schlesier? Oder irgendwie alles zusammen, je nach Situation? Und was heißt in diesem Kontext überhaupt „deutsch?‟ Muss man zwingend Deutsch als Muttersprache sprechen, um sich als Deutsche(r) bezeichnen zu können?

„Haben wir heute genügend deutsche Identität?‟, stellte Martin Herbert Dzingel, Präsident der Landesversammlung der deutschen Vereine (LV), die Frage in den Raum, als er am 6. Oktober die Konferenz der deutschen Minderheit im Tschechischen Außenministerium eröffnete, die der Dachverband der deutschen Minderheit alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Ministerium durchführt. Es war die erste einer ganzen Reihe von Veranstaltungen der LV an diesem Wochenende, bei dem sich das Thema der Identität wie ein roter Faden durch das Programm zog. Ganz direkt fragte der Titel der Konferenz nach der „Identität und ihre[r] Bedeutung für die nationalen Minderheiten‟, während beim kulturellen Teil des Wochenendes das Thema der Identität eher im Hintergrund Anklang fand. 

Auf ihrer „Suche nach Identität‟ erhielt die LV an diesem Wochenende zahlreiche Unterstützung aus dem In- und Ausland, nicht zuletzt konnten bei den insgesamt vier Veranstaltungen an drei Tagen viele Ehrengäste begrüßt werden. Grußworte überbrachten u.a. (per Videobotschaft) der Außenminister der Tschechischen Republik, Jan Lipavský (Piraten), der Deutsche Botschafter in Prag, Andreas Künne, sowie die Beauftragte der Bundesregierung für nationale Minderheiten und Aussiedlerfragen, Natalie Pawlik (SPD), die auf deutscher Seite die Schirmherrschaft über die Konferenz der deutschen Minderheit im Tschechischen Außenministerium übernahm. Angereist war auch wieder eine Delegation der Sudetendeutschen Landsmannschaft, angeführt von Bundesvorstand Hans Knapek und Heimatpflegerin Christina Meinusch.

Alle zwei Jahre organisiert die Landesversammlung eine Konferenz im Tschechischen Außenministerium, in diesem Jahr war „Identität” das zentrale Thema. Foto: Lena Pierskalla

Schwere Folgen des 20. Jahrhunderts

Die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik hat keine leichte Geschichte hinter sich und war in der Vergangenheit mehrmals gezwungen, die eigene Identität nach außen zu verteidigen. Nach der Gründung der von den Habsburgern unabhängigen Tschechoslowakei fanden sich die Deutschen, die einst aus Sachsen, Thüringen, Bayern und anderen Gegenden in die böhmischen Kronländer gekommen waren, dort über Jahrhunderte hinweg lebten und viele Regionen des Landes zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte brachten, als eine Minderheit in dem neuen Staat wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte 1945/46 die Vertreibung der meisten Deutschen, über drei Millionen an der Zahl. Bereits vorher hatten die Nationalsozialisten so gut wie das gesamte deutschsprachige jüdische Leben im Land vernichtet. In der kommunistischen Tschechoslowakei waren die Heimatverbliebenen bald einem großen Assimilierungsdruck hinsichtlich Kultur und Sprache ausgesetzt. Die deutsche Minderheit hörte auf, als eine organisierte Gruppe zu existieren, auch zusammenhängende Siedlungsgebiete gab es fortan nicht mehr. Das führte dazu, dass mit der deutschen Sprache und Kultur auch die deutsche Identität zu großen Teilen verloren ging oder zumindest in Frage gestellt war. Erst mit der politischen Wende 1989 wurde es (mit Ausnahme des 1969 unter kommunistischer Aufsicht gegründeten Kulturverbands) wieder möglich, sich offen zur deutschen Minderheit und damit auch zu einer deutschen Identität zu bekennen. 

Das 20. Jahrhundert hinterließ tiefe und schmerzhafte Spuren, mit deren Folgen sich die deutsche Minderheit bis heute konfrontiert sieht. LV-Präsident Dzingel betonte damit auch die Notwendigkeit, sich als Minderheit ein Wochenende lang intensiv mit dem Thema der Identität zu beschäftigen.

Aspekte von Identität

In der heutigen, von der Globalisierung geprägten Welt stellt sich die Frage, welche Rolle nationale Identitäten in unserer Gesellschaft noch einnehmen und worüber sie sich definieren können. Bevor die Teilnehmenden der Konferenz mit der Diskussion einsteigen konnten, gaben Sandra Kreisslová (Institut für Ethnologie) und Manfred Weinberg (Institut für germanische Studien) von der Karls-Universität Prag eine umfassende wissenschaftliche Einführung zum Thema. Während Kreisslová in ihrem Vortrag die Verbindungen zwischen Identität und Gedächtnis betrachtete, eröffnete Weinberg eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Begriff der Identität. 

In dem sich daran anschließenden ersten Diskussionsblock konnten die theoretischen Aspekte von Identität noch erweitert und durch praktische Beispiele ergänzt werden. Dabei wurde schnell klar, dass der Begriff Identität sehr vielschichtig ist. Vor allem ist es offenbar kein Widerspruch, mehrere Identitäten gleichzeitig anzunehmen. „Wenn wir nur eine Identität hätten, würden wir ein sehr langweiliges Leben führen”, so der Historiker Jørgen Kühl, der an der Europa-Universität Flensburg zu nationalen Minderheiten sowie Grenz- und Nationalitätenkonflikten lehrt. Einen interessanten Einblick gab Kühl dabei auch in die deutsche Minderheit in Dänemark sowie Identifikationsprozesse in der deutsch-dänischen Grenzregion. Auf Interesse stieß dabei besonders Kühls Bericht über Personen, die sich gleichzeitig der deutschen Minderheit in Dänemark sowie der dänischen Minderheit in Deutschland zugehörig fühlen. Als aktuellen Trend beobachtet Kühle außerdem sogenannte Bindestrich-Identitäten, die mehrere Dinge vereint, ohne sie zu trennen, wie dies etwa bei den Bezeichnungen „deutsch-tschechisch” oder „deutsch-dänisch” der Fall wäre.

Die Diskussionsteilnehmer des ersten Panels sprachen über verschiedene Aspekte von „Identität“. V.l.n.r.: Richard Šulko, Jakub Štědron, Bára Procházková (Moderation), Jørgen Kühl und Tomáš Lindner. Foto: Lena Pierskalla

Auch Tomáš Lindner, der in einer deutschsprachigen Familie im Erzgebirge aufwuchs und heute als Journalist bei der tschechischen Wochenzeitschrift Respekt tätig ist, meint, dass man sich zu mehreren Identitäten gleichzeitig bekennen kann. Klar wird im Laufe der Diskussion aber auch, dass Identitäten immer auch kontext- und situationsabhängig sind. Ein zentrales Identifikationsmerkmal, da sind sich alle Diskutierenden einig, scheint aber die Sprache zu sein. „Sprache verbindet”, sagt Jakub Štědron, der das Haus der nationalen Minderheiten in Prag leitet und einen Einblick in die Tätigkeiten der insgesamt 14 offiziell anerkannten nationalen Minderheiten in der Tschechischen Republik hat. In vielen Fällen sind es aber auch Traditionen, darunter Trachten, Musik und Volkstänze, die Identität stiften. Das beste Beispiel dafür ist Richard Šulko, der zusammen mit seiner Familie das Egerländer Kulturerbe mit Leben füllt.

Die deutsche Minderheit in einer Identitätskrise?

Doch ist das für junge Menschen heute noch attraktiv, sodass sie sich für ein Engagement für einen Verein der deutschen Minderheit gewinnen lassen? Denn klar ist, wenn die deutsche Minderheit als solche auch in Zukunft existieren und ihre Strukturen erhalten möchte, muss laufend Nachwuchs in die Vereine strömen, was aber kaum passieren kann, wenn sich junge Menschen mit dem, was in den Vereinen passiert, nicht identifizieren können. „Die jungen Leute wollen keine Kaffee-und-Kuchen-Treffen veranstalten, sie wollen etwas bewirken und die Vereinsarbeit ganz anders gestalten”, sagt Anna Kolářová während des zweiten Diskussionsblocks, welcher sich mit den konkreten Herausforderungen bei der Pflege der nationalen Identität beschäftigt. „Wir befinden uns daher schon in einer kleinen Identitätskrise.” Kolářová ist seit vergangenem Jahr die Vorsitzende der JUKON, der Jugendorganisation der deutschen Minderheit in Tschechien, und daher sehr mit der Frage beschäftigt, wie Vereinsarbeit für junge Menschen attraktiv gestaltet werden kann.

Dass das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Minderheit bei der jüngeren Generation abnimmt, stellt aber auch Štěpánka Šichova, Geschäftsführerin des Vereins für deutsch-tschechische Verständigung Trautenau/ Riesengebirge, fest. „Aber es ist eine Krise der Identität überhaupt”, sagt Šichová und fügt hinzu: „Junge Leute haben meist keine Antwort auf Fragen der Identität, für sie ist das auch nicht so wichtig, sie haben oft andere Interessen.” Šichová verfolgt bei ihrer Arbeit den Ansatz, bei den Menschen ein Bewusstsein für ihre regionale Identität und damit auch für Anliegen der deutschen Minderheit zu schaffen.

Das zweite Panel diskutierte darüber, wie sich junge Menschen heutzutage mit Minderheiten identifizieren (können). V.l.n.r.: Marco Just-Quiles, Štěpánka Šichová, Maximilian Schmidt (Moderation), Anna Kolářová und Giuanna Caviezel. Foto: Lena Pierskalla

Eine interessante Perspektive brachte Marco Just-Quiles, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland, in die Diskussion ein. Dieser gründete das in Lateinamerika tätige „#JungesNetzwerk”, welches die Jugendarbeit deutschsprachiger Kulturvereine unterstützt. Just-Quiles konnte praktische Beispiele aufzeigen, wie eine moderne und attraktive Jugendarbeit ohne große finanzielle Mittel gelingen kann und hob dabei den „Mehrwert” hervor, den ein Minderheitenverein als Bindeglied zwischen dem jeweiligen Land und Deutschland spielen kann. Der Diskussionsblock wurde komplettiert durch Giuanna Caviezel, die einen Einblick in die rätoromanische Minderheit in der Schweiz geben konnte. 

Mit Best-Practise-Beispielen der Jugendorganisationen der Lausitzer Sorben sowie der deutschen Minderheit in Polen fand die Konferenz im Außenministerium ihren Abschluss.

Die deutsche Minderheit feiert ihre Kultur

Während sich die Konferenz den Fragen nach Identität überwiegend aus einer akademischen Perspektive näherte, konnte man sich bei der traditionellen Kulturellen Großveranstaltung der LV am Samstagnachmittag im Kulturzentrum Novodvorská ein konkretes Bild machen, wie die deutsche Minderheit in Tschechien ihr umfangreiches Kulturerbe und nicht zuletzt ihre Identität auf ganz praktische Weise pflegt und mit Leben füllt. „Unsere Identität, das ist unsere Sprache, unsere Kultur, Lieder und Tänze. Alles, was wir heute hier sehen”, fasste es LV-Präsident Martin H. Dzingel in seiner Begrüßung zusammen. Bei der Großveranstaltung, der größten kulturellen Veranstaltung der deutschen Minderheit im Jahr, können sich vor allem auch die regionalen Vereine und Verbände mit ihrer Arbeit präsentieren. Und so boten sie auch in diesem Jahr ein buntes und unterhaltsames Programm, das die Gäste, darunter wieder viele Ehrengäste, häufig in die Hände klatschen ließ. Durch das Programm führten Jiřina Cvrkalová aus Mährisch Trübau und LE-Chefredakteur Maximilian Schmidt. 

Für eine fulminante Eröffnung sorgte die deutsch-tschechische Chanson-Sängerin Světlana Nálepková. Foto: Lena Pierskalla

Mit dabei waren in diesem Jahr wieder die Schönhengster Tanzgruppe, das Egerländer Duo „Målaboum” und die aus mehreren Generationen bestehende Tanzgruppe „Die Målas”. In diesem Jahr standen auch wieder viele junge Menschen auf der Bühne. Für musikalische Unterhaltung sorgten etwa die Kinder aus dem Hultschiner Ländchen sowie das Orchester der Grundschule der deutsch-tschechischen Verständigung in Prag. Daneben zeigten Kinder aus Trautenau (Trutnov), wie sie „unter Aufsicht” des Berggeistes Rübezahl Deutsch lernen. Als Gäste traten die Lausitzer Sorben mit ihrem Folkloreensemble „Wudwor” sowie für die Sudetendeutsche Landsmannschaft Rosina Reim und Christina Legner auf, welche dem Publikum die Wischauer Sprachinsel näherbrachten. Nach dem offiziellen Programm konnte wieder zur Musik des Prager Hradschiner Orchesters Josef Kocůrek’s das Tanzbein geschwungen werden.

In Trautenau werden die Kinder beim Deutschlernen vom Rübezahl beaufsichtigt. Foto: Lena Pierskalla

Foto-Wettbewerb zu deutschen Gräbern

Kaum etwas symbolisiert die Geschichte und Gegenwart der deutschen Minderheit in Tschechien so sehr wie die tausenden deutschen Friedhöfe, die vielerorts als letztes Zeugnis an die jahrhundertelange Geschichte der Deutschen in diesem Land erinnern. Die Pflege und Bewahrung deutscher Gräber ist daher auch ein zentrales Anliegen der LV, die aktuell zusammen mit der tschechischen Regierung nach einer landesweiten Lösung sucht. Denn der Großteil der Gräber verfällt und bietet vielerorts einen traurigen Anblick. Bereits im Frühjahr dieses Jahres beschäftigte sich eine Konferenz im Tschechischen Außenministerium mit Fragen rund um die deutschen Gräber.

Bis Ende Oktober sind die Fotobeiträge des JUKON-Fotowettbewerbs im Institut für Translatologie an der Karls-Universität zu sehen. Foto: Lena Pierskalla

„Wir wollten das Thema auch unter junge Leute bringen”, begründet Ilyas Zivana, ifa-Kulturmanager der LV, die Motivation, einen Foto-Wettbewerb zu dem Thema durchzuführen. Darin hatte die JUKON junge Menschen bis 30 Jahren aufgerufen, in den eigenen Orten deutsche Gräber aufzusuchen und zu fotografieren. Eine Jury wählte aus insgesamt 17 Beiträgen die besten aus, die am Sonntag in der Karls-Universität mit einer Vernissage der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Noch bis 10. November werden sie dort im Institut für Translatologie in der Hybernská 3 zu sehen sein (die Siegerfotos finden Sie am Ende des Beitrags). 

Identität bleibt Thema

Das Thema der Identität wird für die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik auch nach diesem Wochenende weiter auf der Tagesordnung stehen. Vor allem das Thema der deutschen Sprache bleibt für die Landesversammlung ein Sorgenkind. Aktuell plant das tschechische Schulministerium die Abschaffung der zweiten Pflichtfremdsprache. Betroffen wäre davon, als meist gewählte zweite Fremdsprache, vor allem der Deutschunterricht. Hoffnung hingegen geben die Pläne der LV, der deutschen Sprache einen höheren Schutz im Rahmen der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen zu verleihen. Ein dementsprechender Gesetzesentwurf befindet sich aktuell bereits in der zweiten Lesung im Tschechischen Abgeordnetenhaus. Sollte es die Änderung durch den parlamentarischen Prozess schaffen, müsste auch das Angebot von Deutschunterricht in der Tschechischen Republik deutlich verbessert werden, vor allem in jenen Regionen, in denen die deutsche Minderheit stark vertreten ist. 

Auch LV-Präsident Dzingel möchte, dass weiter über das Thema der Identität gesprochen wird: „Ich schlage vor, dass alle Verbände kleine Konferenzen zum Thema Identität durchführen”, regte Dzingel dazu an. „Uns ist es wichtig, dass wir über die eigene Identität nachdenken, selbstbewusster werden, und vor allem, dass die ältere Generation ihre Identität an die Jüngeren weitergibt.”

Unseren Foto-Rückblick zum Veranstaltungswochenende der Landesversammlung finden Sie auf Facebook.


Sieger des JUKON-Fotowettbewerbs 2023

Erster Platz: Ondřej Procházka: „Antlitz im Efeu“/„Obličej v břečťanu“

Kreativpreis: Kateřina Uhlářová: „Pietät?“/ „Pieta?“

Öffentlichkeitspreis: Matouš Petruň: „Ein würdevoller Ort“ / „Pietní místo“

Preis der deutschen Minderheit: Tereza Tokošová: „Engel“/ „Anděl“

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