Rudolf Jenatschke war ein leidenschaftlicher Fotograf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und Priester. Ein Bildband zeigt nun bislang unbekannte historische Aufnahmen Nordböhmens.

Die Aufnahmen sind dramatisch. Menschen rennen durch das Bild. Einige tragen etwas unter dem Arm. Auf einem anderen Foto hat eine Gruppe von Menschen riesige Säcke um sich gestapelt. Im Hintergrund umringen Hunderte Menschen eine Halle, die auf den nächsten Bild in Flammen aufgeht. Es ist der 2. November 1918 in Aussig (Ústí nad Labem). Ausgehungerte Menschen stürmen zwei Vorratslager für Lebensmittel auf dem Westbahnhof und auf dem anderen Elbufer.

Das Kürzel „JR“ auf den Fotos steht für Rudolf Jenatschke, einem leidenschaftlichen Fotografen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Diese Aufnahmen zeigen die große Not der Menschen zum Ende des Ersten Weltkrieges. Die Fotos haben für uns einen hohen dokumentarischen Wert“, sagt Petr Karlíček. Der Leiter des Stadtarchivs von Aussig hat gemeinsam mit seinem langjährigen Vorgänger Vladimír Kaiser und dem Historiker Jiří Preclík vom Stadtmuseum einen dicken Bildband mit über 300 Fotografien von Jenatschke veröffentlicht. Das großformatige Buch ist ein seltenes Zeitdokument für Nordböhmen und offenbar nicht nur für Historiker und Archivare interessant. Zur Buchvorstellung kurz vor Weihnachten kamen 250 Menschen, darunter der Oberbürgermeister von Aussig höchst persönlich. Die erste Auflage von 1000 Stück ist fast ausverkauft. „Sicher wurden viele Bände zu Weihnachten verschenkt“, meint Karlíček. Wer Glück hat, bekommt eins der letzten Exemplare noch im Museumsshop. Eine zweite Auflage ist schon geplant.Selbst eine Roma konnte Rudolf Jenatschke zu einem Foto überzeugen. Mitherausgeber Petr Karlíček präsentiert stolz den Bildband. Foto: Steffen Neumann

Doch wer ist dieser Rudolf Jenatschke? „In Nordböhmen war er eine richtige VIP“, sagt Karlíček und meint die englische Abkürzung für „sehr wichtige Person“. Denn seit den 1910er Jahren reiste er mit Lichtbildervorträgen durch die Region. Dabei war er eigentlich Priester. Daher auch der Untertitel des Bildbands „Der von der Fotografie besessene Priester“. Für sein Hobby war das von Vorteil. „Er galt als Respektsperson und war zumindest in Aussig allgemein bekannt“, sagt Karlíček. Das erklärt, warum er auf fast allen Bildern Menschen hat. „Wenn der Priester bat, man solle sich fotografieren lassen, dann wurde natürlich gehorcht“, sagt Karlíček. Außerdem nutzte Jenatschke immer die modernste Technik.

Keine gestellten Bilder

Die Menschen wirken jedoch selten gestellt, wie in jener Zeit üblich, sondern fangen den Alltag ein. Fotografieren war für Jenatschke kein Feiertagshobby. Er war eher ein fleißiger Reporter. Auch hier war sein Beruf, den er ab 1907 als Religionslehrer an einer Mädchenschule in Aussig ausübte, von Vorteil. Jenatschke galt per se als verschwiegen, hatte Zeit, weil keine Familie, und war nicht auf Geld angewiesen. Das verschaffte ihm auch Zugang zur Familie des Kohlebarons Ignaz Petschek, der ihn aufgrund seiner Integrität als „Hoffotografen“ engagierte. Petschek wurde zu seinem wichtigsten Förderer und sponserte ihm unter anderem eine neunmonatige Reise durch Amerika.

Mit diesem Nimbus der Unantastbarkeit konnte er auch jene eingangs beschriebenen Szenen vom Ende des Ersten Weltkriegs fotografieren. „Jenatschke hatte keine Angst und das Vertrauen der Menschen“, erklärt Karlíček. So hielt Jenatschke im Stile eines Katastrophenreporters einen Erdrutsch, Brände und Explosionen fest. Seit 1915 fotografierte er immer wieder Warteschlangen für Zucker, Seife, Milch, Fleisch, Brot, Tabak. Anfangs noch geordnet, später als chaotisches Gedränge.

Sarassani in Aussig

Die Bilder sind nicht nur für Karlíček eine Offenbarung. „Ein Foto ist sogar direkt von meinem Haus aus fotografiert“, stellte der Archivar überrascht fest. Jenatschke hielt viele Gebäude und ihre Inneneinrichtung fest, die es heute nicht mehr gibt. Seine Fotos dokumentieren auch den früher völlig normalen, regen Austausch zwischen Nordböhmen und Ostsachsen, dem sich beide Regionen langsam wieder nähern. So ist der Dampfer „Loschwitz“ bei der Durchfahrt durch die fast fertige Staustufe am Schreckenstein zu sehen. Jenatschke hielt das 100-Jahr-Gedenken an den Todestag des sächsischen Dichters Theodor Körner fest, ein Gastspiel des Zirkus Sarassani in Aussig und viele weitere Motive. Zwar gibt es den Bildband nur auf Tschechisch, aber die meisten Bilder sprechen für sich.

Wie die anderen deutschstämmigen Böhmen musste Jenatschke nach 1945 seine Heimat verlassen. Er, der zeitlebens Probleme mit den Atemwegen hatte, starb 1947 67-jährig in Regensburg.

Der größte Teil seiner Fotos befindet sich im Stadtmuseum Aussig. Einige wurden bereits früher veröffentlicht, doch aufgearbeitet und digitalisiert wurden sie erst jetzt. „Das waren wir ihm schuldig“, sagt Vladimír Kaiser, Karlíčeks langjähriger Vorgänger, der im Laufe seiner Recherchen auf immer mehr Bilder von Jenatschke gestoßen war, so dass das Buch immer wieder erweitert werden musste. Und nach der Veröffentlichung meldeten sich private Sammler mit weiteren Bildern. „Ich hoffe, dass wir auf diese Weise auch auf die Fotoserien aus Amerika und von anderen Reisen stoßen“, freut sich Kaiser bereits auf eine Neuauflage.

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