Hanna Zakhari vom Deutschen Kulturverein Region Brünn erinnert sich an besondere Heiligabende mit Weihnachtsmessen: zum ersten Mal in der BRD nach der Emigration aus der damaligen Tschechoslowakei – und zum ersten Mal nach der Wende in Karlsbad. Dabei gehörte ihre Familie eigentlich den „Freidenkern“ an.
Der Begriff „Freidenker“ hat seinen Ursprung in der englischen und französischen Aufklärung. Der Begriff wird erstmals in einem Brief des englischen Philosophen und Wissenschaftlers William Molyneux vom 6. April 1697 an John Locke, einen bekannten Pionier der Aufklärung, erwähnt. In Deutschland wurde er im 18. Jahrhundert von Lessing und Leibnitz verwendet. Die Bewegung verbreitete sich in ganz Europa, in der Ersten Republik sowohl in der tschechischen Zivilgesellschaft wie auch in der deutschsprachigen hier mit Sitz in Wien. Natürlich waren die Mitglieder – nur so nebenbei angemerkt – Gegner des Nationalsozialismus.
Freidenker sind heute im weitesten Sinne des Wortes Menschen, die eine politisch und gesellschaftlich verantwortliche Lebensweise befürworten, nicht an eine höhere Macht glauben und religiöse Dogmen ablehnen. Sie verstehen sich als Atheisten, Agnostiker oder Skeptiker und vertreten einen säkularen Humanismus. Im engeren Sinne bezeichnet dieser Begriff Anhänger der Freidenkerbewegung, insbesondere Mitglieder des Freidenkerbundes.
Mein Vater war in seinem zivilgesellschaftlichen Engagement unter anderem sein ganzes Leben lang Mitglied der Bewegung und – er glaubte nicht an Gott. Ich besuchte zwar den Religionsunterreicht in der Schule – solange es noch in dem System möglich war – aber mehr auf Wunsch meiner Mutter. Hin und wieder ging ich auch in die Kirche.
Der erste Heiligabend in der BRD
Ich war gerade 18 Jahre alt, als ich emigrierte. Die Ausreise nach Deutschland zu Verwandten wurde mir aus bis heute unbekannten Gründen genehmigt, und ich kehrte nicht zurück. Eine mir bis dahin recht fremde Tante nahm sich meiner an, fand einen Job und auch eine Unterkunft in einer Einrichtung, die so etwas wie ein Studentenwohnheim gewesen ist. Natürlich nur für Mädchen, meist aus dem Ausland. Am anderen Ende der Stadt gab es etwas Ähnliches für junge Männer. Wir besuchten uns gegenseitig – aber um etwaige Missverständnisse zu vermeiden, waren Besuche lediglich in Gesellschaftsräumen der Einrichtungen erlaubt.
Den ersten Heiligabend verbrachte ich bei der Familie meiner Tante. Als ich nach Hause zurückkehrte, war es immer noch recht lebhaft. Es herrschte eine richtig gute Weihnachtsstimmung im Saal, ich glaube, es wurde sogar getanzt. Kurz vor Mitternacht sagte jemand, warum gehen wir nicht zur Mitternachtsmette in die nahegelegene Kirche? Also bin ich mitgegangen, obwohl ich nie zuvor zum Mitternachtsgottesdienst gegangen bin. Ich wollte einfach die Stimmung nicht verderben.
Wir waren etwa zehn Personen und nahmen die ganze lange Kirchenbank ein. Die Messe war sehr feierlich, ich erinnere mich sonst nicht mehr an viel. Aber was mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung blieb, war die Abschlusszeremonie. Am Ende des Gottesdienstes bat der Priester noch um das letzte Lied: Stille Nacht, heilige Nacht. „Unsere“ ganze Kirchenbank hat natürlich auch mitgesungen. Und ich staunte immer mehr.
Christof Kabambe, ein dunkelhäutiger Student aus dem damaligen Kongo, Alain aus Paris und Annie aus Lyon sangen das Lied Französisch, zwei Mädchen, Schwestern aus Spanien, Daggi aus Ecuador, Beatriz aus Chile auf Spanisch, es gab auch Studenten aus Ägypten, Christen. Einer hat später erzählt, dass seine Vorfahren mit Napoleon kamen und sich in Kairo niederließen. Wir natürlich in deutscher Sprache, allerdings so ich mich erinnere, kannte ich damals den Text in tschechischer Sprache besser als in deutscher. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, aber plötzlich wussten wir alle, dass wir keine „Fremden“ waren. Wir sind alle Menschen, so ist es. Der Zauber der Liturgie einer Mitternachtsmesse.
Weihnachten „zuhause“ in Karlsbad
Nach Jahrzehnten im Ausland kam die Samtene Revolution. Und zufällig bekamen wir ein Prospekt in die Hand, dass ein Hotel in Karlsbad einen Weihnachtsaufenthalt anbietet; die erste Rückkehr „nach Hause“ für meine hochbetagte Mutter. Nach der Reise, der Unterkunft und dem festlichen Abend beschlossen mein Mann und ich in der naheliegenden wunderschön beleuchteten Kirche Maria Magdalena die Mitternachtsmesse zu besuchen. Es schneite sehr stark – und die Kirche war übervoll von Menschen. Noch nicht einmal ein Stehplatz war möglich, die Leute standen bis auf die Außentreppe. Nur die erste Bank ganz vorne war leer, als würde noch eine hohe Persönlichkeit erwartet werden. Wir wollten gerade gehen, aber in diesem Moment kam jemand auf uns zu und bat, ihm zu folgen. Er führte uns zur allerersten Bank und forderte uns auf, Platz zu nehmen.
Es war ein unbeschreibliches Erlebnis, die Zeremonie direkt vor dem festlich geschmückten Altar zu beobachten. Ich weiß nicht, was passiert ist, vielleicht hat jemand einen Fehler gemacht, vielleicht war es etwas anderes, aber es war eine wunderschöne und zauberhafte Mitternachtsmesse, die ich nie vergessen werde. Zu Hause. Obwohl ich normalerweise keine Kirchgängerin bin.
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