Von „ich“ zu „wir“, von „ihr“ zu „uns“ und von „Grenzen“ zu „Gemeinsamkeiten“: In seinem Essay, welcher beim Essay-Wettbewerb der Ackermann den ersten Platz belegte, plädiert Alexander Ihle für ein Europa, in dem alle Menschen über Grenzen hinweg gleich behandelt werden.
Es ist nicht schwer, sich in diesen Tagen in seinen eigenen Gedanken zu verlieren; in Zeiten von Krisen und Kriegen scheint die Flucht in sich selbst der beste Ausweg. Es wird dabei immer ungeordneter, nicht nur auf der Welt, sondern auch in mir. Kaum eine Krise hat meiner Generation so die Realität des vergänglichen Friedens verständlich gemacht wie der Ukraine-Krieg. Ein Novum in einer Gesellschaft, die unseren Wertevorstellungen so sehr ähnelt, das zeigte nicht zuletzt der Euromaidan mit dem Wunsch einer Zusammenkunft unter der gemeinsamen europäischen Flagge. Es ist auch ein klarer Wunsch meiner Generation in der Ukraine, für moderne Werte einzustehen, jeden Menschen als Teil einer funktionierenden Gesellschaft zu fördern und seine Freiheiten als Grundlage für ein erfülltes Leben eines jeden Einzelnen zu sehen. Betrachtet man die politische Lage in Russland und den Eingriff in die öffentlichen und privaten Strukturen, kann man an diesem freiheitlichen Begriff in Russland stark zweifeln. Mit dem Krieg gegen die Ukraine beginnt somit auch ein klarer Angriff auf das, was uns umgibt, unsere Strukturen, unsere Demokratien und unsere Rechte, die in anderen Ländern an Wert verlieren.
Wir befinden uns im Herzen Europas, auch hier werden die Wertevorstellungen von unterschiedlichen politischen Kräften von innen und außen angegriffen, als kein Teil dieser Gesellschaft definiert und gezielt Menschen aus unserer Mitte gerissen. Die Proteste innerhalb Deutschlands haben dabei sehr wohl gezeigt, dass man für die allgemeinen Werte dieser europäischen Gemeinschaft einsteht. Es ist keine Selbstverständlichkeit, in Frieden und Freiheit zu leben; es ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem der demokratische Wertekompass immer wieder die Grenzen des Rechts eines jeden ausloten muss.
Doch auf was berufen wir uns eigentlich? Welche Werte liegen in uns, welche verteidigen wir? Gerade Kriege zeigen die Grundzüge einer wertfreien Welt; Zivilisten und öffentliche Infrastruktur verlieren an Schutz; die Rechte des Einzelnen werden eingeschränkt, auch, aber nicht ausschließlich, um die der Allgemeinheit zu schützen. In der Europäischen Union stützen wir uns auf die Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichstellung, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Werte, deren pure Existenz ein Erfolg der Arbeit der Europäischen Union ist, es gilt diese unter der Flagge eines jeden europäischen Staates zu schützen und regelmäßig zu evaluieren. Diese Werte wurden über Jahrzehnte erkämpft, von Bürgern eines jeden Staates, von Eltern, Großeltern, Geschwistern, Tanten und Onkeln, von Menschen, die friedliche und demokratische Plattformen nutzten, um sich gegen Ausgrenzung und pure Machtsicherung auszusprechen, die aufstanden, wenn andere schon keine Kraft mehr hatten und die es teils immer noch tun, auch um andere zu schützen, die ihr Sprachrohr womöglich schon verloren haben. Es liegt daher auch in unserer Pflicht, zu deren Verteidigung bereitzustehen, mit Stimme und Taten zu verteidigen, was uns am Herzen liegt, die demokratischen Wege zu nutzen und sie zu stärken.
Die Folgen und Lehren aus dem russischen Angriff sind daher klar zu formulieren als: Demokratie stärken und schützen. Kaum etwas anderes hat solch einen Einfluss auf Gesellschaften wie die demokratischen Strukturen und ihre ausgewogene Balance zwischen der Freiheit und dem Schutz eines Einzelnen. Erst, wenn uns selbst dieser Wert bewusst wird, kann die Nachhaltigkeit der Demokratie gegeben sein. Es zeigt sich dabei, dass vor allem Bildung, besonders die, die sich auch mit politischen Prozessen beschäftigt, dabei hilft, die Strukturen zu erhalten und folgenden Generationen die Relevanz der Demokratie näherzubringen.
Keine Frage ist, dass auch kulturelle Verknüpfungen und ein regelmäßiger Austausch untereinander das Sinnbild einer funktionierenden Gesellschaft wiedergeben und somit den Respekt und das Verständnis gegenüber anderen Kulturen stärken. Die Komplexität der Welt in all ihren Tücken ist keineswegs ein Grund, um sich gegen die Realität zu wenden. Gerade diese Komplexität ist der Ausdruck von dem, was wir sind, Individuen, die sich in Gemeinschaften formen, die lieben, die Familien gründen, die lernen und scheitern. Es gehört zu uns allen, somit scheint mir die Frage, ob es möglich sei, sich von einigen westlichen Werten zu verabschieden, ein zutiefst unehrlicher Gedanke. Wir können uns nicht von dem trennen, was uns im Ganzen eint. All diese Werte sind in keinem Fall zu vernachlässigen; falls Sie jedoch an dieses glauben, rate ich Ihnen, sich mit denen zu beschäftigen, auf deren Rücken diese Abkehr ausgetragen wird. Sie sind gesellschaftliche Gruppen, die zu unserer Gemeinschaft gehören; auch sie haben Eltern oder Geschwister, kommen aus Verfolgung oder müssen sie teils noch immer erleben. Dabei spreche ich ganz gezielt auch über die Gruppe der LGBTQI+, deren Geschichte meist zurückbleibt, wenn man an frühere Tage denkt. Es sind verlorene Seelen, die keiner von uns wiedererwecken kann. Auch ich zähle mich zu dieser Gruppe und kann es oft nicht verstehen, wenn die Wirklichkeit mal wieder infrage gestellt wird. In keinem Moment in meinem Leben konnte ich über meine Gefühle entscheiden, sie waren da und auch ich wollte sie zuallererst nicht wahrhaben. Ich habe das getan, womit sich viele unterdrückte Gruppen abgeben: der Flucht in sich selbst und der Abkehr von der Gemeinschaft. Warum Zeit in etwas investieren, das die eigene Existenz infrage stellt, ausgrenzt oder deren Rechte abspricht?
Genau das ist, was uns schadet, was uns trennt, die Abkehr vom Menschsein, das fehlende Verständnis für das, was uns umgibt. Schauen Sie sich um, blicken Sie auf das, was Sie umgibt, es sind Menschen. Wenn wir dies verstehen, die Grundzüge der Freiheit des Einzelnen anerkennen, diese schützen und uns zu dem bekennen, was wir sind, kann über jede Grenze hinweg eine respektvolle Kommunikation mit gemeinsamen Lösungen im Mittelpunkt stehen. Mein Plädoyer daher: Kommen Sie von „ich“ zu „wir“, von „ihr“ zu „uns“ und von „Grenzen“ zu „Gemeinsamkeiten“. Die Sprache ist dabei kein Hindernis, sondern eine Schönheit der Vielfalt.
Daher ist die Europäische Union als „sui generis“ eine zwar recht komplexe Art der Vereinigung unter gemeinsamen Werten, aber genau das, was wir als Menschen brauchen, eine Gemeinschaft, die ihren Sinn in der Gleichbehandlung von Menschen über Grenzen hinwegsehen sollte. Dass dies nur Hand in Hand mit einer durchweg sozialen gerechten Welt geht, die ihre Ressourcen schont und den Wohlstand mit Menschen generiert, die ihre Zukunft nicht infrage stellen, ist eine Verpflichtung, zu welcher wir uns jederzeit bekennen sollten. Am Ende geht es um uns, unsere Nachfahren und eine Erde, für deren zukünftige Existenz wir eine Verantwortung haben.
Mit diesem Text belegte der Autor den 1. Platz beim von der Ackermann-Gemeinde ausgeschriebenen Essaywettbewerb. Das Thema des diesjährigen Wettbewerbs lautete: „Ist der Westen noch zu retten?“ Die Preisverleihung fand im Rahmen des „Dialogs in der Mitte Europas“ vom 22.4.-24.4.2024 in Brünn statt.