Mit dem Zeichner Nicolas Mahler kehrt Jaroslav Rudiš in seinem neuen Buch Nachtgestalten zur Graphic Novel zurück. Auch diesmal begeben sich die Hauptfiguren auf eine Reise.
Ziehen zwei alte Freunde durch die Nacht, der eine groß und hager, der andere klein und knubbelig. Beide ausgestattet mit einer langen Nase. Kopf und Gesicht sind nicht wirklich erkennbar, Arme fehlen ganz. Comic-Gestalten eben. Nur die Füße zeigen: Sie sind unterwegs. Auf ein Bier. Von einem Bier zum anderen. Von einer Kneipe zur nächsten. Um miteinander zu reden, so unter Männern. Über Gott und die Welt. Über die Tragik der Liebe, die Abgründe des Lebens und das Ende der Geschichte. Private Moral und große Philosophie. Bierphilosophen in hellblauer Mondnacht, vor pechschwarzer Stadtsilhouette. Ein großartiges Tableau, trostlos und melancholisch zugleich.
Nicolas Mahler, vielfach ausgezeichneter Comic-Zeichner in Wien, hat es für seine beiden namenlosen Figuren entworfen. Ein paar Striche nur, und doch leben sie die Gedanken, mit denen sie Jaroslav Rudiš durch die Nacht führt. Die Kneipen nichts als zwei Stühle, ein Tisch mit den Humpen darauf, im gleißenden Licht einer einsamen Birne, die an langer Schnur von der Decke hängt. Total ungemütlich, aber Raum, um die Seele zu öffnen. Reichlich Stoff für Rudišs Wortblasen, die über den beiden Gestalten schweben: Meist nur ein Satz. Stichworte, Andeutungen.
Es gibt kein Entkommen
Meist spricht der Lange. Erzählt von seinen traurigen Lebensmomenten, von seinen Missgeschicken. Von seiner verrückten Familie. Aber auch von der Last der Geschichte, vom Holocaust, der seine Großeltern in Theresienstadt umbrachte, und dass er deshalb nicht mit dem Zug über Kolin (Kolín) nach Pardubitz (Pardubice) fahren kann, weil dort, in Kolin, noch heute das Zyklon B produziert wird, nur unter dem neuen Namen Uragan D2. An seinem privaten Unglück ist für ihn als gelernten Historiker ganz einfach die Geschichte schuld. Doch selbst, wer Geschichte studiert, resigniert am Ende, wird die Welt deshalb nicht besser verstehen. Nur: „Es gibt kein Entkommen“. Deshalb zuvor noch ein Bier.
Sein Partner, der Kleine, lässt ihn reden. Pflichtet ihm bei oder zweifelt verhalten. Lakonisch, mit verhaltener Empathie: „Ja, vielleicht“ oder „ja, ich weiß nicht“ oder „tja, das ist kompliziert“ sind das Äußerste seines Mitgefühls. So kommen beide gut miteinander zurecht. Nur einmal, und dies gleich am Anfang, wird es kritisch für den Kleinen. Beim Thema Nummer eins: die Frauen. Hier geht es um Hana, die unerwiderte Liebe. Sie hat einen anderen als die Beiden gewählt. Vor langer Zeit. Und doch quält den Langen noch immer die Frage aller Fragen: Hat der Kleine mit ihr geschlafen? Als dieser bejaht, ist die Stimmung im Keller. Stumm sitzt jeder vor seinem Bier.
Von einem Bier zum nächsten
Die Kneipe schließt, man macht sich zur nächsten auf. Ein neues Bier, Versöhnung folgt. Denn es gibt Hoffnung, verkündet der Lange: Ein Leben wie die Wisente im Osten Polens. Das sind die Tiere, denen es am besten geht: kein Streit zuhause, keine Vorwürfe, kein Radau. Und trotzdem Sex: Im Mai besuchen die Bullen die Kühe, lieben sie, plaudern über die Kinder – und verschwinden dann wieder in den Tiefen des Waldes. Man(n) hat seine Ruhe. Mithin das Glück auf Erden. Dennoch will der unglückliche Lange nicht hin zu den glücklichen Wisenten – es gibt dort kein Bier.
Und sowieso mag er die Natur und das Wandern nicht. Einmal war er „auf einem Spaziergang“ zum Mont Blanc. In Sommerlatschen. Cafe-Freunde hatten ihn dazu überredet. Er kam nicht weit. Ein Hubschrauber musste ihn retten. Für viel Geld. Dennoch denkt er glücklich daran zurück: mit dem Piloten konnte er immerhin über sein Lieblingsthema schlechthin reden: das Ende der Geschichte. Am Ende des Buches aber geht auch bei ihm Privates vor Katastrophe: „Hast Du wirklich mit Hana geschlafen?“ will er beim Abschied von dem Kleinen wissen. Für den ist die Sache längst erledigt: Alles egal, vorbei, macht keinen Sinn. Und zitiert dazu die böhmische Weisheit seines Großvaters: „Darauf pinkeln die Eulen“.
Erinnerung an Winterberg
Irrwitzige Geschichten wie diese finden sich noch viele. Sie sind bei Bier und Schnitzel in Wien entstanden, atmen aber durch und durch böhmischen Geist. Jaroslav Rudiš zeigt sich erneut auf der Höhe seiner Fabulierlust und –kunst. Die Kneipe ist ihm Inspirationsquell. Hašek und Hrabal lassen grüßen, die im “Kelch“ (U Kalicha) bzw. „Zum Goldenen Tiger“ (U Zlatého Tygra) ihren Stammplatz hatten. Rudiš feiert die Kneipe als identitäts- und friedensstiftendes Biotop in der Mitte Europas. Hier kann man sein, wie man ist, wo man lacht und sich streitet und wieder versöhnt. Oder nur schweigt und sein Bier trinkt. Ganz nach dem Motto des großen Goethe: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein.“
Hier in diesem Comic greift Rudiš manche Themen kurz und pointiert wieder auf, die er in seinem Roman „Winterbergs letzte Reise“ in einem großen historischen Bogen über 500 Seiten ausgebreitet hatte. Mitteleuropa als gemeinsamer Lebens- und Kulturraum ist sein und unser aller Schicksal. Text und Bild der Nachtgestalten führen diese Idee auf vergnügliche, ja süffige Weise fort. Sie werden zu Lichtgestalten in den Zeiten der Pandemie.
Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler: Nachtgestalten, Luchterhand 2021, 144 Seiten, 18 Euro (D), 18,50 (A)