Foto: Rübezahl – Sagen und Legenden um den Herrn des Riesengebirges. Verlag Carl Ueberreuter, Wien – Heidelberg. Auflage 1954.

Ein Wanderer kroch einst mit vieler Beschwerde unter den wild zusammengehäuften Steinhaufen des einsamsten Gebirges einher. Er musste, nicht ohne Gefahr, von einem Abgrunde zum andern, von einem Felsen zum andern springen und steile Höhen emporklimmen, während bald wieder ein wilder Gebirgsbach seine Schritte hemmte. 

„Es ist nur gut,“ sagte er zu sich selbst, „dass ich meinen treuen Stab mitgenommen habe, der mir schon durch manch langes Jahr gute Dienste geleistet hat.“ Bei diesen Worten setzte er ihn zwischen die Steine, um einen reißenden Bach zu überspringen; aber knacks — brach der Stab entzwei und der Wanderer fiel ziemlich unsanft in den Bach. Ganz durchnässt sprang er wieder empor; da er sonst keinen Schaden genommen hatte, ärgerte ihn der Verlust seines Stabes am meisten. „Wie soll ich nun von diesen steilen Bergen wieder hinab kommen,“ klagte er, „da ich meiner gewohnten Stütze beraubt bin und auf dieser Höhe nirgends ein Baum gedeiht, aus dessen Ästen ich mir einen neuen Stab schneiden könnte.“ 

Plötzlich sprach eine scharfe Stimme dicht hinter dem Wanderer: „Was fehlt dir?“ Eine große Gestalt, in einen weiten Mantel gehüllt, stand jetzt neben dem Erstaunten, der sich in dieser wilden Einsamkeit  ganz allein glaubte; der Wanderer aber erholte sich von seinem ersten Schreck und erzählte dem Fremden von seinem unangenehmen Verluste. 

„Und darüber wirst du so kleinmütig!“ sagte dieser spottend; „hier hast du meinen Stab, wenn du dich nicht traust, ohne solchen wieder hinab zukommen!“ Damit entfernte sich der fremde Mann; und wie er so in dem niedrigen Gestrüpp des Knieholzes hinschritt, schien er immer größer und größer zu werden und endlich ganz in Nebel zu vergehen. 

Der Wanderer achtete nicht viel darauf, sondern glaubte, die Entfernung oder die Brechung der Lichtstrahlen hätten diese Täuschung hervorgebracht; er war sehr erfreut über den schönen Stab, den der Fremde ihm geschenkt hatte, und schritt dann rüstig weiter. Als er ein Stück Weges gegangen war, fing der Stab an, ihm höchst beschwerlich zu werden; wo er ihn hinsetzte, glitt er wieder aus und ward dabei immer schwerer und schwerer. Kurz, er diente dem Wanderer nicht mehr zur Stütze, der mühsam die steilen Berge hinabkletterte und den Stab dabei in der Hand trug. Er musste aber bald mit der rechten, bald mit der linken abwechseln,  so schwer war der Stab, zuletzt legte er ihn gar auf die Schultern und keuchte unter der immer wachsenden Last langsam weiter. Aber auch so ward er zuletzt unerträglich drückend und der Wanderer zog ihn langsam hinter sich auf der Erde fort, wo er oft festgewurzelt zu sein schien und nur mit großer Anstrengung los zu machen war. Endlich geriet der Stab durch Zufall zwischen die Füße des Wanderers, und er umfasste ihn mit beiden Händen, um nicht zu fallen. Dadurch ritt er förmlich auf dem wunderlichen Stock, und nun flog dieser mit ihm in gewaltiger Eile an den sieben Gründen, der Sturmhaube, dem hohen Rad und den Teichen vorbei, immer wilder, immer schneller. Der Angstschweiß tropfte dem unfreiwilligen Reiter aus allen Poren und er befahl seine Seele Gott, denn wie leicht konnte der grausige Ritt ihn hinunter in die Schneegruben reißen, wo er gewiss verloren war. 

Endlich kam der Wanderer tief unter den Korallenfelsen in die Tannenwaldung und der Stab hielt an. Fluchend warf er ihn weit von sich hinweg und sank ermüdet und halbtot vor Angst auf das Moos in den kühlen Schatten nieder. Kaum aber ward er sich seiner Sinne bewusst, als er seinen alten Stab, den er am Morgen zerbrochen hatte, ganz und unverletzt zu seinen Füßen liegen sah. Fröhlich nahm er ihn auf und wanderte weiter, bis er zu einer schönen Gebirgswiese kam, die den Vordergrund zu einem freundlichen Dorfe gab, das jetzt nahe war. Nun fiel es mit einem Male wie Schuppen von den Augen des Wanderers, dass jener Fremde der Herr des Gebirges gewesen sei; und wie er sich ähnlicher Erzählungen erinnerte, zweifelte er keinen Augenblick, dass der Stab, den er ihm geschenkt, sich gewiss in Gold verwandelt hätte, und darum auch so schwer geworden sei. Eilig lief er zurück, so ermüdet er auch war, hastig durchsuchte er den ganzen Wald, durchspähte den kleinsten Busch, aber — der Stab war nirgends zu finden.

Dieser beitrag erschien in der landesecho-ausgabe 11/2023

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