Václav Havel hätte den Kopf über die Deutschen geschüttelt, die Kiew und dem Westen mangelnden Friedenswillen unterstellen und Waffenlieferungen ablehnen. Appeasement war für den einstigen Prager Präsidenten „der Weg in die Hölle“, meint unser Kommentator Hans-Jörg Schmidt.
Als der britische Außenminister Lord Chamberlain von der Münchner Konferenz 1938 in die Heimat zurückkehrte, wedelte er auf dem Londoner Flughafen mit dem ausgehandelten Papier und erklärte stolz, den Frieden gerettet zu haben. In der Nacht davor hatte er das Ergebnis der Verhandlungen mit Hitler den in einem Hotel zum Warten verdammten Tschechen etwas kleinlauter erklärt. Der Westen habe Hitler die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei zugestehen müssen, um des großen Ganzen willens, des Friedens. Die Briten, die auf einen Krieg nicht vorbereitet waren, gewannen etwas Zeit. Aber am 15. März 1939 hatte der „Führer“ genug von der Beschwichtigung. Die Wehrmacht marschierte in Prag ein und besetzte die „Rest-Tschechei“. Die Appeasement-Politik des Westens, der dafür seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Prag aufgab, war krachend gescheitert. Zu Lasten der Tschechen.
„Manifest für den Frieden“ in Tschechien undenkbar
Als am 21. August 1968 Truppen mehrerer Warschauer-Pakt-Staaten den Prager Frühling überrollten, reagierte der Westen de facto gar nicht. Nach dem Motto „Das Beste, was wir für die Tschechoslowakei tun, ist nichts zu tun“, wie es der damalige bundesdeutsche Außenminister Willy Brandt schon 14 Tage vor dem Einmarsch formuliert hatte. Die Folgen davon trugen Tschechen und Slowaken. Erst 22 Jahre später zogen die sowjetischen Besatzer aus dem Land ab. Tschechen und Slowaken mussten den Eindruck bekommen, dass sie selbst schuld gewesen seien mit ihrem vorlauten Streben nach Freiheit. Nach diesen Erfahrungen war es verständlich, dass der erste Prager „Nachwende“-Präsident, Vaclav Havel, Appeasement, das sich Raushalten auf Kosten anderer, als „den Weg in die Hölle“ bezeichnete.
Ich habe in mehr als drei Jahrzehnten in Prag sehr viel über die tschechischen geschichtlichen Traumata gehört, gesehen und gelesen. Sie sind lebendig bis heute. Ich räume ein, dass geschichtliche Erfahrungen, die ein Land machen musste, nicht so einfach auf andere Länder übertragbar sind. Erfahrungen muss man selbst machen. Aber man kann wenigstens den Versuch unternehmen, sich in andere Völker und deren Traumata hinein zu versetzen. Dann versteht man womöglich auch, weshalb ein „Manifest für den Frieden“ wie das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer in Tschechien (wie auch in den anderen Staaten der Nato-Ostflanke mit Ausnahme vielleicht Ungarns) völlig undenkbar wäre. Havel würde darüber den Kopf schütteln, da bin ich ganz sicher. Vermutlich würde er aber auch – bei aller gebotener Diplomatie – wenig Verständnis für das deutsche „Original“ des „Manifests“ empfinden. Die Tschechen sehen es in der Tat so, wie ich nach der Wahl des künftigen Präsidenten Petr Pavel in einem Kommentar geschrieben hatte, dass die Ukrainer auch „für unsere Freiheit“ kämpfen.
„Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen“, sagen die Friedensforderer. Mit „Sympathie“ kann die Ukraine ihren Kampf um Freiheit, um Unabhängigkeit von Russland und um territoriale Unversehrtheit nicht gewinnen. Und Putin würde sich von westlicher bloßer „Sympathie“ für die Ukraine wohl auch nicht wirklich aufhalten lassen.
Kein neues System der Satellitenstaaten
Und damit bin ich bei einem zweiten Punkt: Havel hat einst in Prag den Warschauer Pakt aufgelöst und später den ersten Nato-Gipfel im „Osten“ geleitet, auf dem die Osterweiterung der Allianz beschlossen wurde. Wladimir Putin will das Rad der Geschichte so zurückdrehen, dass diese Osterweiterung de facto zurückgenommen wird. Tschechen, Slowaken, Polen oder die baltischen Länder wollen aber weder zurück in Moskauer Einflussgebiet, noch halbgare Pufferzone zwischen dem Westen und Russland werden. Diese Länder und ihre Völker haben sich für die Werte des Westens entschieden, von sich aus. Und geduldig gewartet, bis die Allianz sie letztlich aufnahm. Wer der Ukraine dieses Recht abspricht und es einmal mehr unter Panzerketten zermalmt, muss mit Gegenwehr rechnen. Der Kreml darf nicht die Chance bekommen, das alte System der Satellitenstaaten mit Waffengewalt erneut herzustellen.
Einem „Prager“ wie mir ist es unverständlich, weshalb daran keiner der „Manifest“-Initiatoren und -Unterstützer denkt. Daran, dass Putin und seine imperialen Mittträumer dann direkt an der Grenze zu Deutschland stünden. Wenn das deutsche Staatsdoktrin würde, wäre es aus mit dem Beistandspakt der Nato, den US-Präsident Joe Biden dieser Tage in Warschau gegenüber den Staaten der Nato-Ostflanke abermals bekräftigt hat.
„Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen“, sagen die Friedensforderer. Mit „Sympathie“ kann die Ukraine ihren Kampf um Freiheit, um Unabhängigkeit von Russland und um territoriale Unversehrtheit nicht gewinnen. Und Putin würde sich von westlicher bloßer „Sympathie“ für die Ukraine wohl auch nicht wirklich aufhalten lassen.