Vor 75 Jahren sorgten mehrere Explosionen eines Munitionslagers in Aussig für ein Pogrom an der deutschsprachigen Bevölkerung.
Es war am 31. Juli 1945 nachmittags, als es zu einer Serie schwerer Detonationen im nordböhmischen Aussig (Ústí nad Labem) kam. Wie sich schnell herausstellte, war ein Munitionslager im Stadtteil Schönpriesen (Krásné Březno) in die Luft geflogen. Die tschechoslowakische Armee hatte dort seit Ende Mai Waffen und Munition gelagert, aber auch verschiedene Wertsachen wie Teppiche, Statuen oder Klaviere. Außerdem befanden sich in dem Lager Flugzeugmotoren. Bei der Explosion kamen geschätzt 28 Menschen ums Leben.
Noch viel mehr starben aber in den Stunden darauf. Noch war nicht ansatzweise klar, warum es zu den Explosionen kam, als die Wut des Mobs bereits Schuldige gefunden hatte: die deutschsprachigen Einwohner der Stadt. Die waren mit Kriegsende zu Feinden erklärt wurden und mussten weiße Binden mit einem „N“ für „němec“ am Arm tragen. Bis 1945 war Aussig eine mehrheitlich deutschböhmisch besiedelte Stadt. Zum Zeitpunkt der Detonation des Munitionslagers befanden sich aber vornehmlich Frauen, Kinder und ältere Menschen in der Stadt. Die Männer befanden sich mehrheitlich noch in Kriegsgefangenschaft.
Deutsche in Aussig (Ústí nad Labem) nach dem Krieg. Laut Bildunterschrift handelt es sich um Angehörige der Wehrmacht. Foto: Archiv Stadtmuseum Aussig
Gegen sie nun richtete sich die Wut und es kam zu einem der schlimmsten Massaker nach Kriegsende auf dem Gebiet der Tschechoslowakei. In Selbstjustiz wurden Menschen erschlagen oder in einem Feuerlöschbecken ertränkt. Die Tagschicht, die gerade aus den Schichtwerken in Schreckenstein (Střekov) auf der anderen Elbseite kam, geriet direkt in das Wüten. Infolge wurden Menschen direkt von der Straßenbrücke geworfen, die über die Elbe führte. „Sie landeten entweder am Ufer oder im Flachwasser und starben durch den Aufschlag oder sie ertranken oder wurden beim Fortschwimmen erschossen“, hat der frühere Stadtarchivar von Aussig, Vladimír Kaiser, recherchiert. Erst nach mehreren Stunden hatte das Morden ein Ende.
Doch es war nicht so, dass sich die Tschechen als solche auf ihre Nachbarn warfen, zumal sich unter den Opfern auch viele deutsche Flüchtlinge aus den Ostgebieten befanden, die hier nicht bekannt waren. „Aber es gab keine Wut der Tschechen auf die Deutschen. Das waren einzelne bzw. zielgerichtet Mitglieder der Revolutionsgarden“, sagt Hans Adamec erregt. Er erlebte das Kriegsende als 16-Jähriger beim Reichsarbeitsdienst. An den 31. Juli 1945 kann er sich gut erinnern, auch wenn er nicht direkt dabei war, „zum Glück“, wie er sagt. „Aber das war Stadtgespräch. Und die Tschechen, aber auch russische Offiziere warnten die Deutschen, in die Stadt zu gehen, um nicht ihr Leben zu riskieren“, erzählt er. „Auch ich wurde von einem Bekannten angesprochen, wo meine weiße Binde wäre. Dabei fuchtelte er mir mit seiner Waffe herum.“
Hans Adamec in seiner Wohnung. Rechts auf dem Klavier ein Jugendfoto von ihm. Foto: Steffen Neumann
Dass die in Aussig ansässigen Tschechen keinen Groll auf ihre deutschen Nachbarn hatten, bestätigen auch die Forschungen der Historiker. Zwar ist bis heute die genaue Ursache der Explosionen unbekannt. Die Untersuchungen wurden schon nach einem Tag abgeschlossen, mit dem Ergebnis, dass es sich um eine Provokation einer Werwolf-Gruppe handelte. Solche Gruppen waren zwar vereinzelt auch noch Ende Juli in der Gegend aktiv. Aber zu viele Indizien rücken andere Thesen in den Vordergrund. Am häufigsten wird eine gezielte Provokation des tschechoslowakischen Staates erwähnt, die zum Ziel hatte, Druck auf die Verhandlungen in Potsdam über das Schicksal der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien auszuüben. Dabei gerät vor allem die Rolle des Stabskapitän Bedřich Pokorný ins Visier, der laut Kaiser auch schon mit der Gestapo paktiert haben soll. Unbestritten ist sein Anteil an der Organisation des Brünner Todesmarsches. Als es zu den Detonationen in Schönpriesen kam, war er auch bereits in Aussig oder mindestens verdächtig schnell vor Ort.
Es gibt aber auch andere Thesen, die Archivar Vladimír Kaiser für nicht weniger wahrscheinlich hält. Da waren die Wertsachen in dem Lager. Der Brand sollte Machenschaften mit diesen vertuschen. Hans Adamec, der heute 92 Jahre ist, und dessen Eltern aufgrund der deutsch-tschechischen Mischehe bleiben durften, hat seine ganz eigene These. „Das war dort die übliche tschechische Schlamperei. Die Munition war nicht fachgerecht gelagert.“ Auch diese These findet unter Historikern Anklang, dass alles auf einen Zufall hinauslief. Die prompte, gezielte Reaktion gegen die Deutschen dagegen dürfte kein Zufall gewesen sein. Die Zahlen der Opfer können aufgrund fehlender Quellen nur geschätzt werden. Laut Archivar Kaiser waren es maximal um die 100. Sudetendeutsche Quellen gingen lange von mehreren Tausend Opfern aus. Die meisten Historiker nach 1989 halten aber ähnliche Zahlen wie Kaiser wahrscheinlich.
Heute Nachmittag wird zum Zeitpunkt der Detonationen wieder an die Ereignisse erinnert. Am Vormittag legte der deutsche Botschafter in Tschechien, Christoph Israng, bereits Blumen auf der Brücke nieder, die vielen gerade Deutschen zum Hohn bis heute Edvard-Beneš-Brücke heißt. Dabei geht der Name auf den sozialdemokratischen Vorkriegsbürgermeister Leopold Pölzl zurück, der sich sehr für ein aktives Miteinander in der Tschechoslowakei einsetzte. Doch rückwirkend hat der Name des Präsidenten, der die Vertreibung der deutschen Bevölkerung maßgeblich vorantrieb, einen sehr bitteren Beigeschmack. Eine Initiative zur Umbenennung gerade auf den Namen von Leopold Pölzl wurde vom Stadtrat nicht angenommen.
Die Gedenktafel an der Beneš-Brücke. Foto: Steffen Neumann
Immerhin erinnert seit 15 Jahren eine Gedenkplatte direkt auf der Brücke an das Massaker. Sie wurde auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Petr Gandalovič angebracht, ist heute allerdings stark verblasst. Da die Brücke schon seit Jahren grundsaniert werden soll, wäre vielleicht auch eine neue Gedenkplatte fällig. Hans Adamec ist mit der Geschichte versöhnt. Er, der sein Leben mit deutschen Wurzeln in Aussig verbracht hat, reagiert sehr allergisch auf nationale oder andere Einordnungen. „Ich bewerte doch jeden Menschen nach dem, was er tut und nicht nach seiner Nation.“ Auf diese Weise kann er den Tschechen keine Schuld geben. Nur weiß er zu gut, dass es immer noch diese Einzelfälle gibt. „Ich hoffe, die Gedenkplatte bleibt da noch lange an der Brücke“, sagt er denn auch.
Bald wird auch noch an anderer Stelle an das Erbe der Deutschen nicht nur in Aussig erinnert. Im Januar soll im hiesigen Stadtmuseum endlich die Dauerausstellung über die Geschichte und Kultur der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien eröffnen.