Nika ist 30 Jahre alt und lebt in Darmstadt. Ihre Großeltern waren als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben worden. Dem LandesEcho berichtet sie über ihre Erfahrung, als Nachkommen von Vertriebenen aufzuwachsen und über die Spurensuche in der Heimat ihrer Großeltern.
Meine Großeltern väterlicherseits stammten aus Lindenau (Lipná), einem kleinen Reihendorf bei Bodenstadt (Potštát) im Nordosten Tschechiens. Ich bin von klein auf mit ihrem Dialekt, ihren Rezepten und Erzählungen aufgewachsen und so wurde ihre Lebensgeschichte auch ein Teil von meiner, wenngleich ich mir als Kind noch nicht darüber bewusst war. Spätestens im Schulalter merkte ich, dass meine Großeltern eigentlich „woanders“ herkamen, denn sie erzählten von ihrer eigenen Kindheit und Jugend in Lindenau – und dann war da natürlich noch der Dialekt, von dem mir immer mehr klar wurde, dass er in unserer Umgebung in Hessen nicht die Norm, sondern etwas Fremdes war.
Es waren schöne, unbeschwerte Jahre, zumindest aus meiner Sicht als Kind. Ich litt zwar manchmal unter meinem Dasein als Außenseiterin, weil ich den im Dorf üblichen hessischen Dialekt weder sprach noch verstand, aber meine Familie war für mich da, besonders meine Oma, die ein sehr fürsorglicher und herzlicher Mensch war.
Über die Vertreibung sprach sie mit mir erst viele Jahre später mit bereits über 80 Jahren. Mein Opa war nach langer Krankheit verstorben und ich half ihr damals im Haushalt, weil sie nicht mehr so viel arbeiten konnte. Wenn sie erzählte, enthüllten sich Stück für Stück Seiten aus dem Buch ihres Lebens, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Sie teilte einen kleinen Teil ihrer Wehmut mit mir, die sie vorher verborgen hatte. Vielleicht, um uns Kinder nicht zu belasten. Ich habe meine Oma sehr geliebt und mich mit ihr verbundener gefühlt, als mit vielen anderen Menschen. Umso trauriger bin ich bis heute, dass ich den Ort ihrer Kindheit und Jugend nie gemeinsam mit ihr besuchen konnte.
Es war 2008, das Jahr nach ihrem plötzlichen Tod, als ich zum ersten Mal nach Lindenau kam. Für meine Schwester und mich war es das erste Mal, diesen Ort zu sehen, den wir nur aus Erzählungen kannten, die uns als Kindern wie Märchen aus einer verzauberten Welt vorgekommen waren. Mein Vater, meine Mutter und meine Tante waren bereits zu Lebzeiten meiner Oma mit ihr dort gewesen. Was war das für ein großes Abenteuer, alles endlich vor mir zu sehen! Ich kann mich zwölf Jahre später nur noch an dieses „Abenteuer-Gefühl“ erinnern, und daran, dass ich es mir anders vorgestellt hatte. Wie „anders“, kann ich heute nicht mehr sagen.
Mein Vater zeigte uns in Lindenau und Umgebung viele verschiedene Orte, die er durch seine Mutter und deren Vater bei früheren Reisen kennengelernt hatte. Das Geburtshaus meiner Oma („altes Bergerhaus“) stand damals noch, fiel 2011 aber leider einer Brandstiftung zum Opfer. Allerdings existiert das „neue Bergerhaus“ noch, das mein Uropa 1934 kaufte. Dort wohnen noch immer Verwandte seines ehemaligen Knechts und Freundes, dem meine Uroma den Hof vor der Vertreibung übergab. Dank ihnen konnten wir den Hof auch von innen sehen. Auch die beiden Häuser der großväterlichen Seite sind erhalten. Das Gefühl eines Zaubers, der von diesem Ort ausgeht, ist auch heute noch da, sodass es mich oft dorthin gezogen hat. Dazu hat wesentlich beigetragen, dass im Dorf und der Umgebung noch Menschen leben, die meine Oma kannten und mit ihr freundschaftlich verbunden waren.
Meine Oma hielt viele Kontakte, per Post und per Telefon. Ein Freund von ihr aus Lindenau hat sie auch in den sechziger Jahren in Deutschland besucht. Nach dem Tod meiner Oma setzte mein Vater die Kontakte fort. Ich habe ihre Bekannten erst auf meinen Reisen getroffen. Allerdings hat mir meine Oma zu ihren Lebzeiten schon von ihnen erzählt, sodass mir die Namen vertraut vorkamen. Mittlerweile sind leider viele verstorben, die beiden ehemaligen Nachbarinnen meiner Oma leben jedoch noch. Es zieht mich zu allererst zu diesen beiden Menschen. Sie sind so warm, herzlich und liebevoll und erinnern mich an die Geborgenheit meiner Kindheit. Es ist auf eine Weise immer ein bisschen so, als ob ich nach langer Suche endlich heimkehre – vielleicht auch stellvertretend für meine Großeltern, die zwar alles getan haben, um sich in an dem neuen Ort einzuleben, ihre alte Heimat aber nie vergessen konnten.
Es ist eine Reise, auf der Heimweh und Fernweh ineinander übergehen und doch komme ich am Ende irgendwie immer wieder zu mir zurück. Meine Seele kennt zwar keine Heimat, aber ich habe dort, wo ich lebe, ein Zuhause.