Der Blick vom Zug zu den Lichtmasten des Žižkover Stadions ist ein Ritual für unseren Autor, der heute vom „Vorstadtklub mit Halbweltpotential“ schreibt.
Neulich lobten wir an dieser Stelle die 2. Liga für ihre eigenartige Anstoßzeit 10.15 Uhr – nicht nur am Sonntag, auch am Samstag. Bleiben wir also bei den Freuden der 2. Liga und widmen uns heute Viktoria Žižkov: Hier pflegt man die Tradition des sonntäglichen Anstoßes um 10.15 Uhr schon lange. Selbst in ihren Erstligajahren war das so. Man trifft am Sonntagmorgen neben dem kleinen Stammpublikum allerlei Gestalten, die dem Prager Nachtleben noch geradeso lebendig entronnen sind. Und weil Schlaf ja total langweilig ist, geht man auf ein Konterbier zur Viktoria. Ein hübscher Vorstadtklub mit dem entsprechenden Halbweltpotential. Das Stadion liegt ganz nah am Hauptbahnhof, etwas oberhalb Richtung Žižkov, dem sympathischen Prag 3. Immer, wenn ich in Prag mit der Bahn ein- oder ausfahre, geht mein Blick bergauf zu den Lichtmasten der Viktoria, die man aus dem Zugfenster für einen kurzen Moment erspähen kann. Ein Ritual, wie der Blick auf den Melniker Weinberg mit dem Schloss von Jiří Lobkowitz.
Vom „Karpfen“ zum Theaterstück
Einmal, im Jahr 1928, war Viktoria tschechoslowakischer Meister! Immerhin. Und nach der Wende zweimal tschechischer Pokalsieger (1994 und 2001). Fast wären sie 2002 Meister geworden, aber fünf Minuten vor Schluss kassierten sie am letzten Spieltag das 0:1 bei Slavia, ein Unentschieden hätte gereicht. Später kam heraus, dass der legendäre Žižkover Manager Ivan Horník allerlei Spieler und Schiedsrichter bestochen hatte. Der bislang größte aufgedeckte Skandal des tschechischen Fußballs. Die Abhörprotokolle der tschechischen Polizei erlangten einigen Ruhm. In schönster Unterweltsprache wurden dort Spiele verschoben. Legendär und so etwas Ähnliches wie sprichwörtlich wurde die Begrüßung: „Ivančík, Freund, können wir sprechen?“ Auch sehr schön die Verpackungen der jeweiligen Bestechungssummen. Davon wurde nur als „Karpfen“ oder „Dank für den Kaffee“ gesprochen, was Summen von bis zu 100000 Kronen gleichkam. All dies führte sogar zu einem hübschen Theaterstück, das eigentlich nur das wahre Leben abzubilden brauchte und diesem Skandal zu noch größerer Berühmtheit verhalf.
Zwischenzeitlich sogar Drittligist, hat sich Žižkov zuletzt in der zweiten Liga etabliert. Im Sommer 19 gelang der Klassenverbleib in der 2. Liga nach einer erstaunlichen Aufholjagd erst am letzten Spieltag der Saison. In dieser Spielzeit aber gibt es eine deutliche Tendenz nach oben. Nach der Herbstsaison und 16 von 30 Punktspielen steht man mit 26 Punkten als Sechster im oberen Mittelfeld der 2. Liga. Vorn liegt derzeit der FC Pardubitz mit 35 Punkten, drei Punkte dahinter steht Iglau, es folgen Brünn und Dukla mit je 31 und Königgrätz mit 30 Punkten als Fünfter. Unter diesen fünf Vereinen werden der Aufsteiger und die beiden Relegationsteilnehmer wohl ausgespielt werden.
Sonntagmorgen in Žižkov
Der Sonntagmorgen des Fußballnomaden gehört also in Prag Viktoria Žižkov. Nach dem Match ist man reif für einen schönen böhmischen Sonntagsbraten. Im Szenebezirk Žižkov, wo man ständig bergauf oder bergab schlendert, finden sich da zahlreiche schöne Möglichkeiten. Mein Empfehlung ist die zünftige „Pardubická Pivnice U Járy“ in der Jeronýmova 577/2, Eingang von der Dalimilova., denn die Kneipe liegt an einem schönen Platz, ganz typisch für Pivnice U Jary. Hier bekommt man das gute Pardubitzer Bier namens Pernštejn Die Pernsteins waren eine Adelsfamilie, der die Stadt einst gehörte. Die Küche ist solide böhmisch, die Klassiker sind verlässlich gut. Niemand hat die Chance, den Ort hungrig zu verlassen.
Naturgemäß gehört in eine Klokany-Kolumne auch ein kurzer Zwischenbericht zur Lage unseres geliebten Vereins. Was soll man sagen? Nicht nur den australischen Kängurus geht es in diesen Wochen schlecht. Auch unserem Prager Lieblingsklub ist derzeit das Glück nicht hold. Nach starkem Saisonstart dachte man, oh, diese Saison werden wir oben angreifen. Insbesondere nach dem begeisternden 3:0 gegen die neureichen Jungbunzlauer begann man im Ďolíček zu träumen. Aber auswärts ging fast nichts. Und mit dem Herbst wurde es auch daheim wieder schlimm. Dann kam es Ende Oktober sogar zu einem Trainerwechsel. Bisher hat sich auch der nicht gut ausgewirkt, die Spiele danach wurden eher noch schlimmer. Also noch defensiver, noch nervöser – insgesamt meistens qualvolle Auftritte. Nun sind wir ja Leid gewöhnt und naturgemäß kann derlei unsere Liebe überhaupt nicht erschüttern. Aber die Sehnsucht nach Schönheit im Kollektiv, die dann auch zum Erfolg führt, bleibt ungebrochen groß. Derzeit sind wir Dreizehnter, also geradeso über dem Strich. Es wird jedenfalls ein anstrengendes Frühjahr, soviel steht fest.
Der Autor ist Herausgeber des Leipziger Stadtmagazins „Kreuzer“.