Der Gmünder Bürgermeister Julius Mihm (Mitte) auf dem diesjährigen Versöhnungsmarsch im Gedankenaustausch mit dem Direktor des Naturkundemuseums Leipzig, Herr Ronny Maik Leder (rechts). Foto: Meeting Brno/ Jakub Šnajdr

Insgesamt vier Mal nahm der Schwäbisch Gmünder Bürgermeister Julius Mihm schon am „Versöhnungsmarsch“ teil, der an den „Brünner Todesmarsch“ und dessen Opfer erinnert. Zdeněk Mareček vom Deutschen Kulturverein Region Brünn hat mit ihm über seine Eindrücke gesprochen.

LE Herr Mihm, wie hat sich der Versöhnungsmarsch aus Ihrer Sicht in den letzten sechs Jahren entwickelt?

Ich habe am Versöhnungsmarsch und dem Rahmenprogramm von Meeting Brno, bzw. am Partnerschaftsprogramm der Stadt Brünn in den Jahren 2016, 2018, 2019 und 2020 teilgenommen. 2016 bin ich den Weg fast vollständig gelaufen, 2018 und 2019 jeweils bis nach Raigern, und 2020 habe ich direkt hinter Pohrlitz die Rückfahrt angetreten, um am Partnerschaftsprogramm der Stadt Brünn teilzunehmen. Am letzten Teil des Marsches, dem öffentlichen Demonstrationszug durch die Stadt Brünn, vom Gymnasium Vídeňská bis in den Hof des Augustiner Klosters habe ich jedes Mal teilgenommen.

Die Zusammensetzung der Teilnehmer am Versöhnungsmarsch ist sehr vielfältig: Da sind alte rüstige Menschen, vornehmlich aus Deutschland, die als ehemalige Vertriebene in ihre Heimatstadt zurückkehren, um an der Auftaktveranstaltung teilzunehmen oder teilweise sogar auch noch mitzulaufen. Einige von ihnen haben als Kinder den Todesmarsch selbst erlitten. Dann laufen dort ganz junge Tschechen mit, Freundeskreise, kleine junge Familien mit Kindern in der Rückentrage. Man findet auch Studenten oder junge Akademiker, aber auch ganz einfache ältere Tschechen, die gar kein Deutsch oder eine andere Fremdsprache sprechen, mit denen man sich dann eigentlich gar nicht verständigen kann. Es gibt auch ältere Tschechen, die gut Englisch sprechen und noch im Berufsleben stehen. Natürlich gibt es auch einige deutsche Teilnehmer, die die Vertriebenen in beruflicher, bzw. offizieller Funktion vertreten.

Die große Vielfallt unterschiedlicher Typen von Menschen ist ein beachtliches Merkmal dieser besonderen Veranstaltung. Eine grundsätzliche Änderung in der Zusammensetzung der Teilnehmer konnte ich in den letzten fünf Jahren nicht beobachten. Auch aus Schwäbisch Gmünd waren anfangs (2016) ganze Schulklassen dabei. Ich habe den Eindruck, dass die Begeisterung an den Schulen etwas nachgelassen hat, obwohl ich inzwischen zwei Vorträge im Geschichtsunterricht unseres örtlichen Parler-Gymnasiums gehalten habe, um für eine Teilnahme an diesem historischen Ereignis zu werben. Trotz der Corona-Situation hatte ich dieses Jahr einen sehr positiven Eindruck von der Beteiligung an der Veranstaltung.

Was sich etwas verändert hat, ist die demonstrative Gegnerschaft, die beim Einmarsch in den Augustinerhof Präsenz zeigt: Hier wurde 2016 von einer größeren Gruppe Altkommunisten eine deutliche Missfallenskundgebung in Bezug auf die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges zum Ausdruck gebracht: Es wurden Vergrößerungen von Fotos gezeigt, auf denen Leichenberge in Konzentrationslagern zu sehen waren, bzw. Adolf Hitler im Auto bei der Fahrt durch die von Menschenmassen gesäumten Straßen in Brünn.

2018 war dieses Motiv gemildert: Es gab eine gemischte Gegendemonstration der beiden polaren politischen Ränder der tschechischen Gesellschaft traulich vereint, der Altkommunisten und der neuen Nationalisten. 2019 gab es merkwürdigerweise gar keine Gegendemonstration und 2020 wieder eine Gruppe, die aber von neuen Nationalisten dominiert schien.

Der Protest gegen den Versöhnungsmarsch scheint im Sinne des Wortes randständig zu sein. Er gehört aber zu seinem Karma. Er beweist die Notwendigkeit dieser Aktion und stärkt sie. Solange auch Ablehnung bekundet wird, trifft der Versöhnungsmarsch einen wichtigen Nerv. Diese Anregung lässt Energie zufließen, die positiv spürbar ist, finde ich.

Brünner Todesmarsch Infobox

Foto: Meeting Brno/ Jakub Šnajdr

LE Haben Sie direkt bei dem Marsch interessante Menschen kennengelernt?

Oh ja, das kann man wohl sagen. Der Versöhnungsmarsch ist ja per se als Kommunikationsformat gerechtfertigt: Jeder, der dort mitläuft, darf andere ansprechen und muss damit rechnen, von anderen angesprochen zu werden. Insofern versuche ich, ganz unbefangen zu sein. Ich erinnere mich sowohl an eine jüngere Tschechin als auch einen Doktoranden der Mikrobiologie, den seine Freundin motiviert hatte, mit ihr an dem Versöhnungsmarsch teilzunehmen. Oder z. B. auch an die Direktorin der Philharmonie Brno, Frau Marie Kučerová, mit der ich mich lange unterhalten habe, um auch einen musikalischen Austausch mit Schwäbisch Gmünd zu finden. Ansonsten hatte ich intensiven Kontakt zu Thomas Lösch, dem Vertreter der Brünner Partnerstadt St. Pölten, mit dem ich mich über verschiedene Themen der Stadtentwicklung austauschen konnte.

Ich frage grundsätzlich immer nach der Motivation meines Wanderpartners. Dabei hört man immer als wichtigsten Beweggrund: „Weil es mir persönlich wichtig ist“, oder: „Weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass ich teilnehme“. Natürlich laufen meine Gespräche mit den tschechischen Gesprächspartnern immer auf Englisch. Ich habe auch den Eindruck, dass Englisch durchaus ab und zu woanders zu hören ist. Unser gegenseitiges Bemühen, lieber Herr Mareček, mit anderen in Kontakt zu kommen, hat uns ja dann auch 2016 zu einem sehr langen Gespräch zusammengeführt. Dabei konnten wir auch mit einer Ihrer Studentinnen aus Kaliningrad (ehemals Königsberg in Ostpreußen) den Dialog der Annäherung und gemeinsamen Wiedergewinnung von Geschichte in den Ländern der nationalen Neuordnung nach 1945 in Ostmitteleuropa ausweiten. Denn auch in Königsberg besteht eine hauptsächlich von der jüngeren Generation getragene Initiative, die Kohärenz der Stadtgeschichte, zunächst einmal städtebaulich, wiederzugewinnen.

LE Wie sehen Sie die Zukunft dieses Versöhnungsmarsches und der Kontakte der Jugendlichen, wenn die Corona-Krise überwunden wird?

Der Versöhnungsmarsch ist mir persönlich eine Herzensangelegenheit. Geschichte ist seit Kindestagen eines meiner Steckenpferde und ich habe persönlich unter der Spaltung in Europa, diesem künstlichen kulturellen Bruch, der mit der Vertreibung noch erheblich vertieft worden war, immer sehr gelitten. Umso mehr genieße ich den Besuch und die Gastfreundschaft der Stadt Brünn, damit ich diesen neuen Austausch mitgestalten kann. Wir werden immer sehr herzlich eingeladen und aufgenommen durch die Stadt Brünn, allerdings ist Schwäbisch Gmünd eine kleine Stadt und eben leider keine deutsche Partnerstadt der Stadt Brünn – dies ist Leipzig und Stuttgart vorbehalten. Allerdings gab es gerade letztes Jahr zwischen Brünn und Schwäbisch Gmünd einen intensiveren Austausch. Im November 2019 konnte ich eine große Delegation von Stadträten und Kulturschaffenden aus Brünn hier in Schwäbisch Gmünd begrüßen, um gemeinsam mit der Direktorin und der Kuratorin der Welterbstätte Villa Tugendhat die Ausstellung zur Villa Tugendhat im Foyer unserer Volkshochschule zu eröffnen und gemeinsam die Verbundenheit zu feiern. Auch die neue Oberbürgermeisterin der Stadt Brünn nahm sich am folgenden Tag Zeit, um sich mit unserem Oberbürgermeister Richard Arnold zu treffen und sich ins goldene Buch der Stadt Schwäbisch Gmünd einzutragen. Hier ist für mich der Wille der Stadt Brünn, die Verbindung zu Schwäbisch Gmünd zu halten und mit Leben zu füllen, deutlich geworden. Für uns ist es phantastisch, dass wir vom Kontakt zur zweitgrößten Stadt Tschechiens profitieren dürfen!

Die Zukunft des Versöhnungsmarsches ist für mich offen. Seine ursprüngliche Initiierung als bürgerschaftliche Aktion mit jährlich wachsendem Zustrom gibt ihm ein hohes Maß an Legitimität über alle politischen Befindlichkeiten hinweg. Sinnvoll ist sicherlich die kommunalpolitische Einbettung in den größeren Rahmen des Kulturfestivals Meeting Brno mit jährlich wechselnden Schwerpunkten und einer großen medialen und Veranstaltungsvielfalt: Der Anspruch, damit die gesamte tschechische Geschichte seit der Staatsgründung 1918 bis heute ins Auge zu fassen, ist sinnvoll, um aus der ausschließlichen Fixierung auf die Vertreibung, ihre unmittelbare Vorgeschichte und ihren Nachhall, herauszufinden. Inzwischen ist der Wunsch der Brünner Stadtpolitik spürbar, im Rahmenprogramm wieder eine gewisse „Balance des Erinnerns“ herzustellen: Seit 2019 findet am Vorabend des Versöhnungsmarsches eine offizielle Gedenkzeremonie im Hof des ehemaligen Gestapogefängnisses statt, um an die Gräuel der deutschen Besatzung zu erinnern.

Solange das Format von Meeting Brno trägt und gelebt werden kann, kann auch der Versöhnungsmarsch als dessen Teil weiter immer neu bestimmt werden. Sein Format als Wanderung, als „Gedächtnisprozession“, ist ja grundsätzlich ein Ritual von großer Kraft und hat einen starken Charakter, auch eine längerfristige, eigenständige Tradition zu begründen: Gemeinsam gehen, sich auf den Weg machen, möglicherweise auch außerhalb des Festivalformats Meeting Brno. Er wird sicher solange Bestand haben, wie in Tschechien die Vertreibung noch ein politisches Thema ist. Denn eines muss man im Auge behalten: Den Versöhnungsmarsch machen unsere tschechischen Nachbarn zunächst primär für sich. Es ist eine innere Versöhnung mit dem Unrecht. Erst in zweiter Linie wendet sich der Marsch an ihre deutschen Nachbarn als eine Offerte, wieder zueinander zu finden, um etwas Neues zu beginnen. Sie müssen es so machen, um sie selbst bleiben zu können. Wir Deutschen dürfen Gäste sein und sind eingeladen, unsere tschechischen Freunde dabei zu unterstützen, dieses sie inzwischen irritierende historische Ereignis für sich einzuordnen. Wir sind stolz und froh, dass hier aus der gemeinsamen Aufbereitung der Vergangenheit Keime für etwas Neues gelegt werden. Sicher ist das Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen irgendwann so selbstverständlich wie zwischen Deutschen und Franzosen, sodass man zu neuen gemeinsamen Formaten und Ritualen finden möchte.

Das Gespräch führte Zdeněk Mareček

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