Helmut Schmidt stammt aus der kleinen Stadt am Rande von drei Gebirgen und ist ihr bis heute auf ganz besondere Weise verbunden.

Meine Heimatstadt Böhmisch Kamnitz (Česká Kamenice) liegt nicht nur in einer idyllischen Gegend, sondern gleich in dreien: Das Zittauer Gebirge, das Elbsandsteingebirge und das Böhmische Mittelgebirge bilden an der Stadt ein Drei-Gebirge-Eck, das viele bekannte Ausflugsziele bereithält. Dazu zählt neben dem Prebischtor auch das Rabsteintal, welches heute zum Stadtgebiet von Böhmisch Kamnitz gehört und für Tschechen und Deutsche einen besonderen Ort darstellt, um der gemeinsamen Geschichte zu gedenken.Böhmisch Kamnitz - Foto:  Radek Bartoš, Česká Kamenice - Square of Peace, CC BY 3.0

Im 19. Jahrhundert begann die Industrialisierung der Stadt vor allem durch die Ansiedlung von Baumwollspinnereien durch den böhmischen Unternehmer Franz Preidl. Die mechanisierten Fabriken zogen weitere Industriezweige an und die Stadt blühte auf. Zu Preidls 130. Todestag am 6. September wurde am Markt eine Ausstellung eröffnet, die an den Unternehmer erinnern soll.

Die von ihm gegründeten Fabrikanlagen wurden während des Zweiten Weltkrieges enteignet und dem Unternehmen „Weserflug“ in Bremen übertragen. Etwa 4.000 Zwangsarbeiter aus 18 Ländern arbeiteten dort unter unmenschlichen Bedingungen. Sie mussten die Fertigungshallen um ein über 4 km langes Tunnelsystem in den Rabsteiner Felsen ergänzen und wurden dort zur Produktion von Kampfflugzeugen gezwungen. Nach dem Krieg waren in dem Lager dann Deutsche interniert.

Der Bürgermeister von Böhmisch Kamnitz, Jan Papajanowský, ist mit 23 Jahren einer der jüngsten in Tschechien und pflegt die seit fast 30 Jahren entwickelten Beziehungen zwischen deutschen und tschechischen „Kamtzern“ weiter. Begonnen wurden diese Beziehungen von Günther Heinrich, der gemeinsam mit Mitgliedern der katholischen Kirche die traditionelle Wallfahrt zur Marienkapelle wieder einführte. Die aktive Beteiligung von alten „Kamtzern“ an dieser Wallfahrt war anfangs beachtlich und zahlreich, hat jedoch infolge des Generationenwechsels nachgelassen. Böhmisch Kamnitz gewann vor einigen Jahren den Titel Historische Stadt des Jahres und trägt diesen Titel mit Stolz und Verantwortung. Das Aufblühen der historischen Mitte der Stadt ist unübersehbar, sie wird auch durch das mit der Wallfahrt verbundene Stadtfest zu einer lebendigen Begegnungsstätte von Deutschen und Tschechen.

Dies hat sich bis nach Prag herumgesprochen und vor drei Jahren im dortigen English College Prague (ECP) ein Projekt angeregt, das inzwischen zu einer traditionellen Begegnung zwischen Schülern und deutschen Zeitzeugen aus der Stadt führt. In diesem Jahr hieß der Bürgermeister 40 Schüler mit ihren Lehrenden und elf Zeitzeugen im Kulturní dům (Kulturhaus), der alten „Turnhalle“, willkommen. Die Teilnehmer sollen durch das Projekt die lange, teils schwierige Geschichte der Region kennenlernen und verstehen, wie Propaganda Menschen dazu bringt, sich gegeneinander zu wenden. Langfristig hat das Projekt das Ziel, die Grundlagen für ein Heimatmuseum zu legen.

Einen Tag vor dem diesjährigen Treffen auf dem Marktplatz traf ich zufällig auf ein deutsches Ehepaar aus Rostock. Die beiden besuchten die Stadt, weil die Ehefrau als kleines Mädchen im Konzentrationslager Rabstein interniert gewesen war. Spontan verlängerten sie ihren Aufenthalt und nahmen an dem Treffen mit den Angehörigen des English College teil. Eine weitere anwesende Frau war ebenfalls über neun Monate in Rabstein interniert. So konnte in den beiden parallel arbeitenden Gruppen von Studierenden und Zeitzeugen authentisch über das Zwangsarbeiterlager und das Internierungslager in Rabstein berichtet und diskutiert werden.Angeregt wurde das Projekt im English College Prague - Foto: Helmut Schmidt

Zu dem Projekt gehörte auch ein gemeinsamer Besuch des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers in Rabstein. Wir gedachten am Mahnmal gegen den Faschismus gemeinsam der nach Rabstein deportierten Menschen und der im Lager Gestorbenen sowie der deutschen Gefangenen, Gefolterten und Toten nach Ende des Krieges. Wir entzündeten Kerzen und legten Blumen nieder.

Für den nächsten Tag hatten Grundschul- und Gymnasiallehrkräfte aus Böhmisch Kamnitz in den ersten beiden Schulstunden ebenfalls im Kulturní dům ein Treffen einiger unserer Zeitzeugen mit 30 Schülerinnen und Schülern der beiden Schulen organisiert. Eine Zeitzeugin hatte sogar ihre Puppe mitgebracht, die ihr im Konzentrationslager Rabstein Trost gespendet hatte, während ihre Mutter zur Zwangsarbeit das Lager tagsüber verlassen musste. Eine lebhafte Diskussion entspann sich zu den Fragen und Antworten. Die Zeitzeugen wurden anschließend von den engagierten Lehrerinnen eingeladen, die ehemalige Jungenschule zu besuchen. So konnten zwei Mitglieder unserer Gruppe die sehr gut erhaltenen Klassenräume ihrer Schulzeit nach fast 80 Jahren wieder betreten.

Alle Beteiligten waren nach dem Treffen überzeugt, dass wir uns im nächsten Jahr nach der Vorbereitung eines Treffens für interessierte Schülerinnen und Schüler hier wiedersehen sollten.


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