Einst galt sie als bedeutendstes Zentrum der europäischen Textilindustrie. Dann versank sie im sozialistischen Grau. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs musste sich die Stadt Asch (Aš) am äußersten Rand Westböhmens völlig neu erfinden.

Sein Name klingt nach einer Figur aus Donald Duck: Gustav Geipel – wie Onkel Dagobert der reichste Mann seiner Heimatstadt. Doch damit hören die Ähnlichkeiten mit Entenhausen auf. Gustav Geipel hütete sein Vermögen nicht in einem Geldspeicher, er gab es zum Wohle der Bürger und der Stadtentwicklung mit vollen Händen aus. Asch in Böhmen spendierte der Textilfabrikant den kompletten Straßenbau und verpasste ihr so das Image einer „Sauberfrau“. Für Bedürftige baute er Sozialeinrichtungen, förderte Kultur und Bildung.

In die Geschichte ging er freilich mit einem Ausspruch ein, im Brustton der Überzeugung vorgetragen in einer Bierkneipe: „Ich liebe meine Heimat, ich liebe meine Heimat sehr!“ Nur vier Wochen später fand man ihn tot im Bett. Das war 1914. Neun Tage danach brach der Erste Weltkrieg aus. Die Stadt Asch, der Geipel ein riesiges Barvermögen hinterlassen hatte, investierte das Geld in Kriegsanleihen. Wie gewonnen, so zerronnen.Der Unternehmer und Mäzen Gustav Geipel mit Hund. Foto: Stiftung Ascher Kulturbesitz, Rehau

Der Unternehmer und Mäzen Gustav Geipel mit Hund. Foto: Stiftung Ascher Kulturbesitz, Rehau

Prostitution und Glücksspiel blühten auf

Oft genug hätte der große Mäzen in den folgenden Jahrzehnten Grund gehabt, sich im Grabe umzudrehen. Die Vertreibung der Deutschen bescherte seiner Heimatstadt einen Aderlass, von dem sie sich nie erholte. Fabriken für ehemals Tausende von Arbeitern ohne Produktion und Häuser ohne Bewohner wurden ein Fall für die Abrissbirne. In den 1970er Jahren verschwand auch die Geipelsche Familiengruft samt der Urne des Mäzens. Der evangelische Friedhof wurde aufgelassen, auf ihm entstanden Tennisplätze. „Grau, hässlich, unattraktiv“, beschreibt Pavel Klepáček das Image Aschs im Sozialismus. Der 51-jährige Bauingenieur steht seit 2006 zusammen mit Bürgermeister Dalibor Blažek an der Spitze der Stadt. „Wir waren allein im hintersten Winkel des Landes, die Regierung schenkte uns keine Aufmerksamkeit.“  Auch die Samtene Revolution habe zunächst keine Wende gebracht, schildert der stellvertretende Bürgermeister. Aufblühen taten nur Prostitution und Glücksspiel, der Stadt brachten sie vor allem einen schlechten Ruf ein.

Asch liegt nur sechs Kilometer von der bayerischen Grenze entfernt. Die oberfränkische Stadt Selb ist der nächste Nachbar. Der Ortsteil Doubrava (deutsch: Grün) grenzt dagegen unmittelbar an Bad Elster in Sachsen. Seine höchste wirtschaftliche Blütezeit erlebt das Ascher Land ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Es entwickelt sich zum bedeutenden Zentrum der europäischen Textilindustrie. In der Stadt dominierten Weberei, Baumwollspinnerei, Strumpfwirkerei, Handschuhfabrikation und Färbereien mit Tausenden von Beschäftigten. Der Export der hochwertigen Stoffe und Materialien geht in alle Welt. Der Zweite Weltkrieg, die Vertreibung der Deutschen und die kommunistische Ära verändern Gesellschaft und Wirtschaft radikal. Etliche ehemals deutsche Textilfirmen werden von den Kommunisten in einem Staatsbetrieb für Strickwaren zusammengeschlossen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs überlebt dieser die Privatisierung nur kurz und wird liquidiert. Die Textilindustrie spielt seitdem wirtschaftlich nur noch eine untergeordnete Rolle. In Asch leben heute über 13.000 Einwohner. Sie arbeiten vor allem im Dienstleistungsgewerbe oder in Zuliefer- bzw. Zweigbetrieben deutscher Firmen.

Spazierte Gustav Geipel heute durch die Straßen, könnte er indes mit Wohlgefallen um sich blicken. Statt grau dominiert grün. Öffentliche Plätze sind neu angelegt, Ruinen erheben sich als moderne Bauten wie ein Phönix aus der Asche. Kein einzelner Mäzen allerdings förderte diesmal die Stadtentwicklung, sondern die Europäische Union. „Mit dem Beitritt der Tschechischen Republik haben sich für uns die Dinge wirklich verbessert“, sagt Klepáček. Er brachte nicht nur die Öffnung weiterer Grenzübergänge, sondern auch den Zugang zu lukrativen Fördertöpfen. Das Ascher Land, geographisch eingeklemmt zwischen Bayern und Sachsen, zieht daraus den Vorteil, aus gleich zwei Förderprogrammen schöpfen zu können. Gemeinsames Ziel: Die Region für den grenzüberschreitenden Tourismus attraktiv zu machen. Viel Geld floss so in Radwege, Camping-Plätze, einen Waldpark, die Sanierung von Museen und Denkmälern.Der Bismarckturm auf dem Hainberg ist das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Foto: Pavel Klepáček

Der Bismarckturm auf dem Hainberg ist das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Foto: Pavel Klepáček

Mäzen Brüssel

Beispiel für ein solches Ko-Projekt: die Mechanische Strickerei Singer, gegründet 1869. Noch 2012 war das markante leerstehende Gebäude unmittelbar neben dem Rathaus eine Ruine. Heute präsentiert es sich als Multifunktionsgebäude. Es beherbergt eine Musikschule und das Kulturzentrum LaRitma. Seit seiner Eröffnung lockte LaRitma bereits landesweit bekannte Stars in den hintersten Winkel der Republik. Das Kulturprojekt, gefördert aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, kostete rund 1,46 Millionen Euro. 1,24 Millionen bezahlte die EU, knapp 500.000 steuerte als Projektpartner eine sächsische Wohnungsgesellschaft bei. Als Eigenanteil für Asch blieben nur 962.960 Euro übrig. „Weil wir erfolgreich so hohe Förderungen generieren, können wir bei den Banken sehr günstige Kreditbedingungen aushandeln mit Zinssätzen, die unter dem Standard liegen“, erläutert der stellvertretende Bürgermeister zufrieden. Unter den Dutzenden EU-Förderprojekten ist auch eines, das dem passionierten Planer Gustav Geipel besonders gefallen hätte: Die Revitalisierung des ehemaligen Zentrums, heute Goethe-Platz, für rund 1,14 Millionen Euro. Dank 85-prozentiger EU-Förderung mussten aus dem Stadtsäckel lediglich rund 171.300 Euro beigesteuert werden.  

Wieder sichtbar und lebendig geworden ist in Asch auch das sudetendeutsche Kulturerbe. Neu errichtet oder restauriert wurden zahlreiche Zeugnisse der deutschen Geschichte, darunter das längst verfallene Gustav-Geipel-Denkmal und der Goethe-Brunnen. Mit den Verbänden der vertriebenen deutschen Bewohner pflegt man eine freundschaftliche Zusammenarbeit. „Das war nach der Revolution nicht selbstverständlich“, sagt Klepáček. Horst Adler, Vorsitzender des Ascher Heimatverbandes aus Tirschenreuth, erhielt 2016 die Ehrenbürgerwürde verliehen. Eine „große Schuld“ aus der Vergangenheit – wie Klepáček es nennt – lässt sich allerdings nicht mehr tilgen. Der einstige evangelische Friedhof wird unter den Tennisplätzen begraben bleiben. Für eine Verlegung der Sportstätten gibt es keine Förderung.Dank Geld aus der EU wurde aus der Ruine der einstigen Mechanischen Strickerei Singer das Kulturzentrum LaRitma. Foto: Pavel Klepáček

Dank Geld aus der EU wurde aus der Ruine der einstigen Mechanischen Strickerei Singer das Kulturzentrum LaRitma. Foto: Pavel Klepáček

Dank App Begegnung mit der Vergangenheit

Dank Digitalisierung aber werden die Grabstätten dennoch wieder zu besichtigen sein. In Kaplanka, einem Geschichts- und Erlebnispark, der ab 2020 entstehen soll. Per „augmented reality“ wird der Besucher dort über eine App über den Friedhof „spazieren“ können. Wer dagegen Gustav Geipel quicklebendig begegnen will, sollte sich zu einer Infostele auf dem Goethe-Platz begeben. Freilich wird er nicht wirklich von den Toten auferstehen. Per App soll auch dort der reiche Mann erscheinen, verkörpert von einem Schauspieler des Theaters Cheb, samt seinem berühmten Spruch: „Ich liebe meine Heimat sehr.“

„Wir sind eine moderne europäische Stadt, die von den großen Vorteilen der Grenznähe profitiert“, resümiert Pavel Klepáček. Das bedeutet bis Anfang März 2020: Asch ist Standort zahlreicher Zweigbetriebe oder Dienstleister deutscher Firmen. Rund tausend Bürger pendeln ins Nachbarland. Der Grenzübergang Asch-Selb mit zehn Millionen Reisenden im Jahr ist die meist frequentierte Schnittstelle zwischen Deutschland und Tschechien mit hoher Bedeutung für die gesamte Region Karlsbad.

Am 14. März wurde Asch-Selb im Zuge der Corona-Maßnahmen dicht gemacht – ausgerechnet kurz vor dem 30. Jubiläum der Grenzöffnung vom 1. Juli 1990. Pendler und Lieferanten mussten Umwege von 30 bis 40 Kilometern fahren, um zu den nächsten noch offenen Übergängen zu gelangen. Eingaben von Unternehmern und des Ascher Rathauses an die tschechische Regierung, eine Ausnahme zu machen und den Grenzübergang wieder zu öffnen, blieben ohne Erfolg. Erst am 26. Mai verschwanden die Barrieren. Grenzverkehr ist in begrenztem Rahmen wieder möglich. Doch im Rathaus befürchtet man, dass die Arbeitslosigkeit nicht nur in Asch, sondern in der gesamten Karlsbader Region deutlich in die Höhe schießen wird, solange kein Tourismus- und Reiseverkehr erlaubt ist.

Auch wenn Asch also vor wirtschaftlichen Herausforderungen steht: Festhalten will man an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. So hat Klepáček den Amtskollegen in den deutschen Nachbarstädten Pakete mit Mundschutz überbracht – als kleine Geste der Freundschaft und des Zusammenhalts. Und eines gelte 2020 genauso wie 1914: „Ich liebe meine Heimat“, bekennt auch der gebürtige Ascher Pavel Klepáček. „Sie ist einfach genau die Heimat, wie ich sie mir vorstelle. Ich bin sehr froh und stolz, wie sich meine Stadt gewandelt hat.“

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.