Nach der offenkundig manipulierten Präsidentschaftswahl in Belarus haben massenhafte Proteste das Land erfasst. Auch in Tschechien zeigen viele Menschen Solidarität mit den Protestierenden und fordern Lukaschenkas Rücktritt. Für Verwunderung sorgten angeblich in Tschechien hergestellte Blendgranaten, die belarussische Spezialeinheiten gegen die Demonstranten einsetzten.
„Lang lebe Belarus! Lang lebe Belarus!“, ruft die Menge, die sich einen Tag nach der Präsidentschaftswahl in Belarus auf dem Prager Palackého náměstí versammelt hat. Es sind etwa 100 Menschen, vor allem viele junge Leute, die ihren Unmut über die offenkundig manipulierten Ergebnisse der Präsidentschaftswahl Ausdruck verleihen möchten. Sie schwenken die von der Opposition genutzte weiß-rote belarussische Fahne, auf Transparenten steht „Freiheit für Belarus“ und „Lukaschenka hinter Gitter“.
Bereits am Tag der Wahl hatten sich Menschen vor der belarussischen Botschaft in Prag getroffen, um für freie und faire Wahlen in dem Land zu demonstrieren, dessen Präsident Aljaksandr Lukaschenka – im Amt seit 1994 – als „letzter Diktator Europas“ gilt.
„STOP Lukaschenka 2020“ – Protestaktion auf dem Prager Palackého náměstí. Foto: Manuel Rommel
„Freiheit für Belarus“ – Foto: Manuel Rommel
Eine Hausfrau gegen Lukaschenka
Nach offiziellen Angaben gewann dieser die Wahl mit einer überwältigenden Mehrheit von etwa 80 Prozent der Stimmen, während die oppositionelle Swetlana Tichanowskaja mit nur knapp 10 Prozent auf dem zweiten Platz landete. Die 37-jährige, zuletzt als Englischlehrerin und Übersetzerin tätige Hausfrau Tichanowskaja trat relativ kurzfristig anstelle ihres Manns, des Videobloggers Sergej Tichanowskij, an. Dieser wurde vor einigen Monaten nach seiner Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft.
Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja bei ihrer Stimmabgabe am Sonntag. Foto: ČTK/AP/Uncredited
Bereits nach Bekanntgabe der ersten offiziellen Hochrechnungen am Sonntagabend, die einen angeblichen haushohen Sieg Lukaschenkas prophezeiten, kam es in der Hauptstadt Minsk sowie im ganzen Land zu Protesten und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Spezialkräften der belarussischen Sicherheitsorgane. Als die offiziellen Wahlergebnisse am Montagmorgen die Hochrechnungen bestätigten, verkündete Tichanowskaja, dass sie das Wahlergebnis nicht anerkennen werde und erklärte sich selbst zur Wahlsiegerin. Inzwischen hatten nämlich unzählige Wahllokale, die die Stimmzettel ehrlich ausgezählt hatten, Wahlergebnisse veröffentlicht, die an dem offiziellen Ergebnis zweifeln lassen – Tichanowskaja geht dort meist deutlich als Siegerin hervor.
„Die Wahlen entsprachen auf keiner Ebene den internationalen Standards für demokratische Wahlen, sie wurden begleitet von einer Reihe von Verstößen gegen diese Prinzipien sowie gegen nationales Recht. Die Ergebnisse der Zentralen Wahlkommission entsprechen nicht dem Willen der Bürger“, sagt Uladzmir Labkowitsch von der belarussischen Menschenrechtsorganisation „Viasna“, die in begrenztem Maße eine unabhängige Wahlbeobachtungskampagne durchführen durfte. Internationale, unabhängige Wahlbeobachter waren nicht zugelassen.
Belarussen in Tschechien für Tichanowakaja
Seit Sonntag hat eine Welle der Gewalt Belarus erfasst, die Spezialeinheiten setzten gegen die Demonstrierenden Blendgranaten, Gummigeschosse und zuletzt in Brest auch scharfe Waffen ein. Mindestens 6.000 Menschen sind seit Sonntag nach offizieller Darstellung verhaftet worden, Hunderte trugen bei den gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften Verletzungen davon und zwei Demonstranten kamen ums Leben. Tichanowskaja hat das Land derweil verlassen und hält sich in Litauen auf. In einem Video, das offensichtlich unter Druck aufgezeichnet wurde, las sie, ohne in die Kamera zu schauen, einen Text vom Blatt ab und rief die Menschen dazu auf, die Proteste einzustellen.
Doch die Proteste, die sich hauptsächlich über den Messenger-Dienst Telegram organisieren, gehen weiter. Nicht nur in Belarus, sondern überall auf der Welt solidarisieren sich Menschen mit den Protestierenden. So auch in Prag. Hier zeigt das Ergebnis des Wahllokals in der belarussischen Botschaft ein Bild, das den offiziellen Ergebnissen diametral widerspricht: Tichanowskaja erhielt 447 Stimmen, Lukaschenka lediglich 22. Das entspricht einer Mehrheit von 92 Prozent für Tichanowskaja.
„Lukaschenka hat allen ins Gesicht gespuckt“
Nach Angaben des Tschechischen Statistikamts leben in Tschechien etwa 7.000 Menschen mit belarussischer Staatsbürgerschaft, in Prag etwa 2.500. Einer davon ist der 38-jährige Ilja Meleschkewitsch, der 2005 als Student nach Prag kam und heute in der Tourismusbranche tätig ist. Seine Frau und sein Sohn verbringen gerade die Ferien bei Verwandten auf einer Datsche, etwa 100 Kilometer von Minsk entfernt. Er selbst musste wegen der Arbeit in Tschechien bleiben. „Meine Frau und mein Sohn sind dort in Sicherheit“, sagt er. Erst kürzlich habe er mit seiner Frau telefoniert – was zurzeit nur über technisch komplizierte VPN- oder Proxy-Dienste möglich ist, denn sämtliche „normalen“ Kommunikationswege sind vom belarussischen Staat gekappt worden.
Ilja Meleschkewitsch: „Lukaschenka hat allen ins Gesicht gespuckt.“ Foto: privat
Das Internet und soziale Medien werden seit Tagen vom Staat blockiert. Einzig über den Messenger-Dienst Telegram ist eine Kommunikation nach außen möglich. Die Stimmung im Land sei verzweifelt, sagt Meleschkewitsch weiter, die Menschen würden kaum noch schlafen. Er berichtet von den teils schwierigen Lebensbedingungen in seinem Heimatland, die Löhne und Renten reichten oft gerade zum Überleben aus. Viele Menschen bauen im Garten eigenes Gemüse an. Die Menschen seien zunehmend unzufrieden. „Das offizielle Ergebnis der Wahlen ist einfach eine pure Provokation von Lukaschenka, damit hat er allen ins Gesicht gespuckt“, schimpft er. Aber er hat Hoffnung, dass sich nun vielleicht etwas ändert. Zumindest wirke die Opposition zum ersten Mal geeint und viele vorher apolitische Menschen würden nun auf die Straße gehen. Es komme aber zu einem großen Teil auch darauf an, wie sich die EU, die Vereinigten Staaten und Russland jetzt verhalten, meint er.
Die internationale Gemeinschaft reagierte bislang relativ bedeckt auf die Geschehnisse in Belarus. Der deutsche Außenminister Heiko Maaß schlug die Wiedereinführung der im Jahr 2016 aufgehobenen Sanktionen gegen das Regime vor. Polen brachte den Vorschlag eines EU-Sondergipfels ins Spiel. In Tschechien äußerte sich zunächst Premierminister Andrej Babiš vergangenen Montag: „Ich verurteile die Polizeigewalt und die brutalen Übergriffe auf die friedlichen Demonstranten in Minsk. Das ist ein Verhalten, das in keinem Fall zum heutigen Europa passt. Die Belarussen haben das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Demokratie.“
Proteste in Prag gehen weiter
„Lukaschenka muss jetzt verstehen, dass er nicht mehr der Präsident ist“, sagt der 42-jährige Übersetzer Max Schtschur, der die Protestaktion unter dem Titel „STOP Lukaschenka 2020“ vom vergangenen Montag auf dem Palackého náměstí mitorganisiert hatte. „Wir müssen jetzt präsent sein und die Gesellschaft auf die Situation in Belarus aufmerksam machen“, lautet seine Devise. Gemeinsam mit den anderen Protestierenden fordert er die Anerkennung des Wahlsiegs Tichanowskajas und Lukaschenkos Rücktritt, nicht zuletzt ein Ende der brutalen Gewalt seitens des belarussischen Regimes.
Max Schtschur. Foto: Manuel Rommel
Die Veranstaltung am vergangenen Montag wird nicht die letzte dieser Art in Prag gewesen sein. Für kommenden Samstag plant Schtschur einen Solidaritätsmarsch, der öffentlichkeitswirksam vom Klementinum über die Karlsbrücke, auf der Nerudova-Straße unterhalb der Prager Burg entlang bis zum Loretanské náměstí führen soll. Weiter mit Protesten geht es dann am Sonntag auf dem Prager Altstädter Ring (Staroměstské náměstí). Fast 1.000 Menschen haben ihre Teilnahme an der Protestveranstaltung mit dem Titel „Freies Belarus 2020“ über Facebook bereits zugesagt, über 5.000 haben Interesse bekundet. Damit könnten die Veranstalter die Aufmerksamkeit erreichen, die sie sich wünschen, denn sie haben klare Forderungen, auch an die tschechische Politik: So solle die tschechische Regierung den Vorschlag Polens unterstützen, einen außerordentlichen EU-Gipfel einzuberufen. „Es ist die Verantwortung unserer politischen Repräsentanten, alles zu tun, um die Gewalt und die Verbrechen seitens des Regimes gegenüber den Menschen und unseren Nachbarn in Europa zu beenden“, schreibt Michal Majzner, einer der Organisatoren der Veranstaltung auf Facebook. Aber die Proteste sind nicht auf Prag beschränkt. In Brünn (Brno) ist für kommenden Sonntag eine ähnliche Veranstaltung geplant.
Dass die belarussische Community in Tschechien besonders aktiv ist, scheint auch schon Lukaschenka selbst zu Ohren gekommen zu sein. Dieser äußerte sich, dass die „Strippenzieher“ der Demonstrationen aus Polen, Großbritannien und Tschechien kämen. „Sie haben per Telefon unsere Schäfchen gesteuert“, sagte er. Das tschechische Außenministerium wies das zurück und forderte Beweise.
Blendgranaten aus Tschechien?
Auf internationaler Ebene sorgten Berichte des aus Polen betriebenen belarussischen oppositionellen Nachrichtensenders Nexta für Verwunderung. Auf von dem Medium veröffentlichten Fotos waren Blendgranaten mit tschechischsprachigen Aufschriften zu sehen. Seitens der Opposition wird spekuliert, dass das erste Todesopfer an den Verletzungen verstarb, die ihm durch eine solche Blendgranate zugefügt worden sind. Nach offizieller Darstellung explodierte in der Hand des Mannes Sprengstoff, den er auf die Spezialeinheiten habe werfen wollen. „Die Tschechische Republik beliefert ein diktatorisches Regime mit Blendgranaten, die friedliche Protestierende verletzen?“, twitterte der Nachrichtendienst Nexta.
Setzten belarussische Spezialeinheiten Blendgranaten aus Tschechien ein? Foto: Twitter/Nexta
Jiří Hynek von der „Assoziation für Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie der Tschechischen Republik“ bezweifelt die Echtheit des Materials. „Ich habe in die Daten geschaut und soweit ich weiß, ist nichts Derartiges von uns an Belarus geliefert worden.“ Seit 2006 besteht in der EU ein Embargo auf den Handel solcher Kampfmittel mit Belarus. Auf dem Etikett der auf den Fotos abgebildeten Granaten ist das Jahr 2012 als Jahr der Herstellung angegeben. Der tschechische Außenminister Tomáš Petřiček kündigte auf Twitter an, dass die Angelegenheit untersucht werde.