Im Prager Lucerna-Palast stellte Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Buch „Freiheit“ vor und verteidigte ihre politischen Entscheidungen – von Flüchtlingskrise bis zur Russlandpolitik. Das Publikum feierte sie.

Bis auf den letzten Platz ausgebucht war der große Saal im Lucerna-Palast, als Angela Merkel die Bühne betritt – gewohnt unaufgeregt in einem azurblauen Blazer. Auffällig viele junge Menschen waren an diesem Abend gekommen, um die ehemalige Bundeskanzlerin einmal in persona zu erleben. In den folgenden anderthalb Stunden sollte es im Gespräch mit Tomáš Lindner von der tschechischen Wochenzeitung Respekt um ihre Memoiren unter dem Titel „Freiheit: Erinnerungen 1954-2021“ gehen, die die Ex-Kanzlerin gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann schrieb. Doch vielmehr wird der Abend zu einem politischen Plädoyer – gegen Populismus und für europäische Einigkeit und Demokratie – und eine Verteidigung ihrer Entscheidungen als Kanzlerin.

„Ich gehörte drei Minderheiten an“

Ob sie denn seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft schon einmal inkognito in Prag gewesen sei, fragt Moderator Tomáš Lindner zum Einstieg. Merkel muss verneinen und verweist darauf, dass es in ihrem Fall auch gar nicht so einfach sei, inkognito unterwegs zu sein. „Auch mit Sonnenbrille nicht“, scherzt Merkel und zieht das Publikum zum ersten Mal an diesem Abend mit ihrer gewohnt lockeren Art auf ihre Seite. Zu Beginn sprechen Lindner und Merkel viel über ihre Kindheit und Jugend in der DDR und ihre Tätigkeit als Wissenschaftlerin, die sie unter anderem nach Prag zur damaligen Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften führte – Land und Leute sind der heute 70-Jährigen also nicht unbekannt. Inwiefern ihre Sozialisation in der DDR ihre politische Laufbahn geprägt habe, möchte Lindner wissen. Merkel antwortet, dass sie, wäre sie in der Bundesrepublik aufgewachsen, sicher nicht Bundeskanzlerin geworden wäre. Ihre Karriere als Politikerin sei stark verknüpft gewesen mit der Wendezeit und den Chancen der Wiedervereinigung. „Ich gehörte ja drei Minderheiten an. Ich war eine Frau, ich war jung und ich kam aus dem Osten“, so Merkel über Helmut Kohls Entscheidung, sie zur Frauen- und Jugendministerin zu machen.

Kritik an Sozialen Medien

Schon bald weitet sich das Gespräch über persönliche Erinnerungen hinaus – Merkel nutzt die Gelegenheit in Prag, um politische Entwicklungen unserer Zeit einzuordnen. Besonders deutlich wird sie, als es um den Zustand der Demokratie geht. „Demokratie heißt nicht nur freie Wahlen“, betont sie, „sondern auch unabhängige Gerichte, Pressevielfalt und die Fähigkeit, Kontroversen auszuhalten“. Dass es an eben dieser Streitkultur zunehmend mangele, sei ein Risiko für die freiheitliche Grundordnung – in Deutschland wie anderswo.

Kritisch äußert sie sich auch zu Sozialen Medien, denen sie eine „existenzielle Rolle“ in der Meinungsbildung zuschreibt – nicht immer zum Guten. Algorithmen, so Merkel, förderten extreme Inhalte, während Grautöne untergingen. Sie begrüßt die Bestrebungen der EU zur Regulierung großer Plattformen und warnte vor zu viel Macht in den Händen von Tech-Magnaten wie in den USA.

„Ich verstehe es, wenn Menschen empört sind“

Besonders eindrücklich wird Merkel, als es um die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 und ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“ geht – ein Satz, der kaum wie ein anderer ihre Kanzlerschaft geprägt hat. Auch heute noch steht sie zu ihrer Entscheidung, die Grenzen während der sogenannten Flüchtlingskrise ab September 2015 nicht zu schließen. „Ich werbe bis zum heutigen Tag dafür, dass wir in Europa gemeinsam dieses Problem der illegalen oder irregulären Migration bearbeiten und dass wir eine gemeinsame europäische Lösung finden“, ist Merkel überzeugt. Die ehemalige Bundeskanzlerin widerspricht der Vorstellung, man hätte die Menschen mit Wasserwerfern an der Grenze zurückweisen sollen – das hätte sie für falsch gehalten.

Angela Merkel zeigt in ihrem Auftritt in Prag durchaus Selbstkritik – allerdings auf ihre typische, differenzierte Art: ohne klare Schuldzuweisungen an sich selbst, aber mit dem Eingeständnis, dass nicht alles gelungen ist oder manches hätte besser laufen können. „Wir haben vieles geschafft“, sagt sie dann noch einmal in Bezug auf ihren berühmten Satz, „und sind an einigen Stellen noch nicht gut genug. Ich kann es verstehen, dass Menschen empört sind, wenn Kriminelle, die verurteilt sind, immer noch nicht in ihre Heimatländer zurückgeführt werden können, und daran muss auch weiter gearbeitet werden.“

Diplomatie, Krieg und Rückblick auf Russland

Ein zentrales Thema des Abends bleibt der Krieg in der Ukraine – und Merkels Rolle in der Zeit davor. Sie verteidigt die oft kritisierten diplomatischen Versuche mit Wladimir Putin, etwa im Rahmen des Minsker Abkommens, räumt aber auch ein, dass Deutschland zu langsam aufgerüstet habe. Es sei richtig gewesen, alles zu unternehmen, um den Krieg zu verhindern, betont sie – und ebenso richtig, nun die Ukraine zu unterstützen. Kritik, etwa aus der Ukraine selbst, begegnet sie mit Ernsthaftigkeit, aber ohne Selbstanklage. Ihre Haltung: Nach damaliger Lage habe sie verantwortungsvoll gehandelt – und würde vieles wieder so entscheiden. So denkt sie, dass ihr Nein zur Aufnahme der Ukraine in die NATO im Jahr 2008 auch heute noch richtig sei.

Applaus im Saal erntet Merkel, als sie auf Israel und den Krieg im Gaza angesprochen wird – und Israels Existenzrecht sowie das Recht auf Selbstverteidigung betont. Gleichzeitig machte sie aber klar, dass sie mit der Art der Kriegsführung Israels nicht einverstanden ist und sich auf der Seite derer in Israel sieht, die aktuell gegen Premierminister Benjamin Netanjahu demonstrieren.

Ein starkes Plädoyer für Europa

Mehrmals erinnert Merkel in Prag an die Stärke europäischer Zusammenarbeit – in der Pandemie, in der Finanzkrise, nun im Umgang mit Russland. Sie warnt eindringlich vor nationalen Alleingängen und populistischen Vereinfachungen: „Es gibt Kräfte, die sagen, gemeinsam dauert alles zu lange – aber allein ist es keine Lösung.“ Dass die EU trotz aller Hürden funktioniere, sei für sie Grund zur Hoffnung.

Am Ende ihres Auftritts spricht Angela Merkel über den Klimawandel, den sie als „vielleicht größte Herausforderung der Menschheit“ bezeichnet. Ihre zentrale Botschaft bleibt aber politisch: Ohne Respekt, Kompromissbereitschaft und ein klares Bekenntnis zur Demokratie werde Europa in einer rauer werdenden Welt nicht bestehen können.

Am Ende gibt es stehenden Applaus für die ehemalige Kanzlerin, der noch stärker wird, als sie sich in der Landessprache mit „Na shledanou“ und „Ahoj“ verabschiedet. Mehrmals dreht sich Merkel noch um und winkt den Leuten zu, bevor sie die Bühne verlässt.

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