Prags Polizeipräsident warnte 1846 in einer Depesche an die bei den Tschechen verhasste Wiener Regierung vor zunehmenden „unerwünschten politischen Umtrieben“ in der Moldaustadt: „Tschechische Nationalisten gründen in jedem Kaffeehaus Vereine und Vereinchen mit patriotischen Tendenzen. Es liegt im Interesse des Staates, scharf dagegen vorzugehen.“
Man darf ziemlich sicher sein, dass die Warnung seinerzeit auf Tatsachen beruhte. Die Polizei in der böhmischen Provinz Habsburgs war streng angehalten, Aufrührer zu entdecken. Sie machte das nicht allein, hatte ihre Leute dafür, die eifrig spitzelten und sich im Schummerlicht der Cafés Notizen über aufrührerische Reden und deren Autoren machten. Das Prager Adressbuch verzeichnet in dieser Zeit schon 36 „Café-Salons und Café-Restaurationen“, die als derartige Brutstätten des politischen Widerstands gegen die Wiener Monarchie „entlarvt“ wurden.
In den Prager Kaffeehäusern saßen damals und in den Folgezeiten zumeist intellektuell wache Leute, deren Hauptbeschäftigung im Lesen von Zeitungen und Zeitschriften bestand. Ende des 19. Jahrhunderts suchten sich die Prager Kaffeehäuser hinsichtlich der Menge der von ihnen gehaltenen Publikationen gegenseitig zu übertreffen. So hielt das Café Continental zunächst 200, später 250 Zeitungen, und nach der Neueröffnung 1911 erhöhte man auf 400, unter denen allein über 50 Prager Periodika gewesen sein dürften. Das Café Edison und das Café Wien brachten es auf je 300 Zeitungen. Zur Lektüre standen eigene Lesezimmer zur Verfügung. Der weit gereiste russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg schreib darüber in einem Brief, den Hartmut Binder in einem fabelhaften Buch über Prager Kaffeehäuser zitiert: „In Schweden trinkt man Kaffee, in Paris schreibt man Gedichte oder küsst sich, in Brüssel verkauft man Aktien und in Prag liest man Zeitungen. Jeder Gast eines Kaffeehauses, der eine Tasse Kaffee bestellt, konsumiert elf Glas Wasser und hundertzwanzig Zeitschriften.“
Politische Gespräche…
Als nach der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei die Nazis das Land besetzten, war nicht nur Schluss mit den Zeitungen. In allen Cafés und anderen Restaurants prangten dafür Schilder, die auf Deutsch und Tschechisch klar machten, dass „politische Gespräche verboten“ seien.
In der „Wende“-Zeit nach 1989 erzählte man sich dann diesen witzigen Dialog: Bestellt jemand im Café Slavia das kommunistische Zentralorgan Rudé právo. „Tut mir leid, die Zeitung erscheint nicht mehr“, erwidert der Ober. Doch der Gast nervt immer weiter, verlangt nach dem Blatt. Am Ende langt es dem Kellner: „Wie oft soll ich es denn noch sagen, Rudé právo gibt es nicht mehr!“ Darauf der Gast: „Seien Sie nicht böse, ich hör‘s halt so gern.“ Der Witz hatte etwas von Bitterkeit: Das Blatt gab es nämlich immer noch, wenn auch nur noch unter dem Titel Právo. das Café Slavia aber war geschlossen, nachdem man es für 50 Jahre an amerikanische Investoren vermietet hatte, die es verkommen und zugesperrt ließen.
Heutzutage gehören Zeitungen selbst verständlich wieder in ein ordentliches Prager Kaffeehaus. Wenn man Glück hat, bekommt man neben den rasch durchzublätternden dünnen einheimischen Zeitungen auch dickere aus Großbritannien, den USA, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und die Leute lesen, diskutieren über das Gelesene mit den Leuten am Nachbartisch, über Politik überhaupt, und über den Köpfen darf sich sogar noch der Rauch von Zigaretten kringeln.
Manch ein Politiker von heute wittert in den Cafés jedoch wie schon Mitte des 19. Jahrhunderts Ungemach. Die solches Ungemach verursachen, haben auch einen Namen, den man vielleicht am ehesten in „Kaffeehaus-Gesocks“ oder „Kaffeehaus-Pack“ übersetzen kann. Damit sind Leute gemeint, die sich aus der heutigen Politikergarde, namentlich aus Präsident Miloš Zeman, permanent einen Jux machen und – so die Zeman-Getreuen – massiv wie dreist am Stuhl des Staatsoberhaupts sägen. Die Verortung dieser „Feinde“ in Prag kommt nicht von ungefähr. Dort hatte Zeman in der Stichwahl zum Präsidentenamt gegen den damaligen Außenminister Karel Schwarzenberg keinerlei Chance gehabt.
…und Slivovice
Zeman war in der Provinz siegreich gewesen, dort, wo man nicht in mondänen Kaffeehäusern sitzt und Zeitungen liest, sondern in Kneipen, die als einzige Lektüre eine mit üppigem Essen und reichlich geistigen Getränken gefüllte Speisekarte führen. Nicht, dass man dort nicht mehr wie in früheren Zeiten ebenfalls über Politik reden würde. Aber dort am Dorfstammtisch zieht man heute über die „Feinde“ des Präsidenten her. Dort sitzt Zeman quasi immer mit am Tisch, lässt sich eine opulente Schweinshaxe schmecken und spült mit ein paar Glas Wein sowie Pflaumenschnäpsen nach. Und er haut sich, mit der unvermeidlichen Zigarette im Mund, ebenso wie die anderen Stammtisch-Gäste belustigt auf die Schenkel, wenn die Rede auf das „Prager Kaffeehaus-Gesocks“ kommt.
Die Stimmung ist gut, steigert sich mit jedem Bonmot des Präsidenten, seit Neuestem über die „Wirtschaftsflüchtlinge“, die den klammen tschechischen Sozialstaat ausnehmen wollten und Widerspruch mit Auspeitschung, Steinigung, Handabschlagen oder gleich Kopfabhauen zu regeln gedächten. Da kann man sich richtig schön gruseln und hat noch im Ausnüchterungsschlaf Alpträume. Spitzel braucht der Präsident in den Dorfkneipen der Provinz nicht – dort sind eh alle seiner Meinung und würden kollektiv johlend sofort jede Fliege verjagen, die es wagen sollte, ihren Kot auf dem Bildnis des Staatsoberhauptes zu hinterlassen, das dort mitunter hängt, wie früher das des Kaisers, eventuell von TGM, Beneš, Gottwald, Zapotocký, Novotný, Husák und Václav II. Klaus. Den ersten „Nachwende“-Wenzel, den Havel, hatten sie dort nie gemocht und wohl auch mit Sicherheit nicht aufgehängt. Man geht auch auf dem Dorf mit der Zeit. Aber nur manchmal.
Würde man den Stammtisch fragen, dann sollte Zeman selbstverständlich für eine zweite Amtszeit kandidieren – wenn nicht das Politzombie Václav Klaus sich noch einmal daran machen sollte, das Land mit seiner zunehmend wachsenden „Weisheit“ beglücken zu wollen. So, wie es derzeit um Europa in der Flüchtlingskrise steht, hätte der gute Chancen, sein EU-Zerstörungswerk im Verein mit so tollen „Demokraten“ wie Marine Le Pen bis zum hübschen Ende umzusetzen.
Aber bleiben wir bei Zeman. Weshalb bekommt der Präsident nicht hin, was er bei seinem ersten Fernsehauftritt nach seiner Wahl – wenn auch sichtlich von Alkohol und Zigarettenqualm aus dem Foyer des TV-Studios auf den Prager Dohlenbergen benebelt – versprochen hatte: die Tschechen zu einen? Das ist nach dem vorher Geschriebenen zwar eine eher rhetorische Frage. Aber sie steht dennoch im Raum. Eine der Antworten darauf hat er am 28. Oktober, dem wichtigsten Staatsfeiertag Tschechiens gegeben. Dort hat er sich bei den bewusst abwesenden Hochschul- und Universitäts-Vertretern „bedankt“, dass sie auf diese Weise Platz für die Angehörigen der Auszuzeichnenden gelassen hätten. Wie kann man sich derart despektierlich äußern? Ist das wirklich witzig, wie Zeman offenkundig meint? Und wie kann es sein, dass er bei der feierlichen Ordensverleihung allen Ernstes auch Leute bedenkt, die schon zu real-sozialistischen Zeiten aktiv waren – und nicht eben förderlich für das Land? Die einzig wirklich nette und zugleich pfiffige Geste an jenem Abend war sein „Mitbringsel“ für die aus gesundheitlichen Gründen abwesende Schauspielerin Libuse Šafránková – drei Haselnüsse, in Anlehnung an die auch nach vielen Jahren noch immer grandiose Verfilmung der tschechischen Version des Aschenputtels mit der heute leider krebskranken Mimin in der Hauptrolle.
Der Spalter-Präsident
Ansonsten spaltet der Präsident die tschechische Gesellschaft, wo er kann. Mitunter vielleicht nicht einmal absichtlich. Er tickt vermutlich einfach so, dass er sich für unschlagbar hält – in seinen Ansichten und in seinem Auftreten. Opfer rechts und links im Straßengraben sind ihm dabei gleichgültig. Bestes Beispiel: Er ruft den slowakischen Premier Robert Fico an, um ihm seine persönliche Unterstützung für die angedachte slowakische Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die von den EU-Innenministern mehrheitlich beschlossene Quote für die Aufteilung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu übermitteln. Was im Umkehrschluss natürlich auch eine geharnischte Kritik an seinem eigenen sozialdemokratischen Premier Sobotka ist, der eine solche Klage für Tschechien ausgeschlossen hat, um die eh schon komplizierte Lage der EU in der Flüchtlingsfrage nicht noch weiter anzuheizen. Zudem wäre Zemans Partner nicht Premier Fico, sondern sein slowakischer Amtsbruder Andrej Kiska. Doch den ruft er nicht an, weil er weiß, dass der in der Migrationsfrage völlig anders tickt. Der schämt sich öffentlich dafür, dass die Westeuropäer den Eindruck bekommen müssen, die neuen EU-Länder begriff en die Europäische Union nur als Geldautomaten, wo sie Hilfe für ihr nationales Vorankommen abzocken könnten. Und der warnt, dass Europa unter solchen Umständen womöglich zerbrechen könnte.
Zeman stört derlei nicht im Geringsten. Er sieht allein auf die Umfragen, in denen der mährische Kneipenstammtisch zahlenmäßig stärker ist als das „Kaffeehaus-Gesocks“ in Prag. Schon ganz und gar in der Flüchtlingsfrage. Das nennt man Populismus reinsten Wassers. Damit stellt sich der Präsident in eine zweifelhafte Riege mit denen, die die EU als eine Art neuen moskaubeherrschten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe betrachten, die sich neuerlich unter einem Diktat wähnen, diesmal aus dem Westen, namentlich aus Deutschland. Und dieses Deutschland war Zeman schon immer suspekt, wie er im Wahlkampf um den Sessel mit der schönen Aussicht von der Prager Burg trefflich unter Beweis gestellt hat.
Fremdwort Solidarität
Man fragt sich automatisch, welchen Sinn für den Präsidenten das mit großem Pomp vollzogene Hissen der Europaflagge auf der Prager Burg hatte. Sähe er sich wirklich als „Europäer“, dann würde er sich nach den Fernsehnachrichten vor sein Volk stellen und dem erklären, dass zwar womöglich komplizierte Zeiten auf die Tschechische Republik in Form von mehreren tausend Migranten zukämen, diese Aufgabe aber zu bewältigen sei. Was sind ein paar tausend Kriegsflüchtlinge in einem Meer von 10 Millionen Tschechen? Eine Bedrohung? Weiß der Mit-Neugründer der tschechischen Sozialdemokratie nichts mehr mit dem Begriff „Solidarität“ anzufangen? Das sollte denn doch verwundern. Zeman ist immerhin Ökonom genug, um zu wissen, was europäische Solidarität für sein eigenes Land bedeutet. Oder mag er freiwillig auf die Milliarden aus den EU-Fonds für Tschechien verzichten? Gehört er am Ende auch zu den (erstaunlich zahlreichen) Traumtänzern, die glauben, Tschechien komme ohne das Bündnis mit den europäischen Nachbarn besser zurecht, sei wieder auf dem Sprung zu einer „zweiten Schweiz“?
Man wird es womöglich am 17. November sehen – ein Tag, der bedauerlicherweise erst nach dem Redaktionsschluss dieser Ausgabe des LandesEchos liegt. Zeman will zur selben Zeit Blumen für die von Stasi- und Polizeibütteln verprügelten Studenten des 17. November 1989 niederlegen, zu der Fremdenfeinde eine Demonstration gegen Kriegsflüchtlinge geplant haben. Zemans Sprecher wollte nicht ausschließen, dass sich der Präsident der Demonstration anschließen und womöglich gar zu ihr sprechen werde. Das wäre eine schallende Ohrfeige für Europa und nebenbei bemerkt auch für die vielen Tschechen, die sich um Flüchtlinge kümmern. Anders und sehr viel liebevoller als in den hochnotpeinlichen Abschiebelagern, die unter der Regie des Innenministeriums stehen und die international zurecht für Proteste gesorgt haben.
Wie dem auch sei: Der 17. November dürfte die Spaltung der tschechischen Gesellschaft nicht überwinden helfen. In den Kneipen wird Zeman vermutlich neuerlich Beifall bekommen. Beim Prager „Kaffeehaus-Gesocks“ mit Sicherheit nicht. Und wohl auch nicht im europäischen Ausland, inklusive in Deutschland. Es steht aber zu befürchten, dass Zeman das mehr oder weniger gleichgültig sein wird.
„Zurück nach Europa“ wollten die Revolutionäre von 1989, wiewohl das zumindest geografisch albern erschien. Unter diesem Präsidenten rückt die Tschechische Republik jedoch inhaltlich immer weiter weg von Europa. Die Alternative liegt im Osten, bei Putin und Konsorten. Von dort hatte sich das Land 1989 befreit. Das ist gerade mal 26 Jahre her. Man mag es nicht glauben, wenn man täglich das teils aberwitzige politische Geschehen in diesem Land verfolgt.
Dieser Artikel erschien im LandesEcho 11/2015.
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