Heute vor 30 Jahren wurde ein friedlicher Marsch von tausenden Studenten in der Prager Nationalstraße (Národní třída) brutal niedergeschlagen. Der dramatische Abend bedeutete den Anfang der Samtenen Revolution. Für unseren Autor Hans-Jörg Schmidt war sie der Auslöser, als Korrespondent nach Prag zu wechseln.
Der Mensch muss auch mal Glück haben. An der Jahreswende 1989/90 – ich arbeitete im DDR-Radio in Ost-Berlin – bot sich mir nach mehreren unerfreulichen Jahren dort die Möglichkeit, endlich in die Redaktion zu wechseln, in die ich schon immer gewollt hatte, aber aus unerfindlichen Gründen nie durfte: in die Abteilung Außenpolitik. Auch die Zielrichtung war klar: Ich sollte mich in die Tschechoslowakei einarbeiten und nach ein paar Monaten auch als Korrespondent nach Prag entsandt werden.
Es war nicht nur Glück, zugegeben, ich habe auch selbst darauf gedrängt, an die Moldau gehen zu dürfen. Einige Kollegen haben das seinerzeit nicht verstanden: „Weshalb willst Du in die Tschechoslowakei – ein Land, in das Du aus der ansonsten fast vollständig abgeschotteten DDR immer konntest?“ Die Antwort fiel mir nicht schwer: „Ich möchte rasch ein exklusives Interview mit diesem Václav Havel für uns machen.“
Dieser Havel hatte mich auf den Fernsehbildern von der „Samtrevolution“ fasziniert. Ein relativ kleiner Mann mit einer jedoch dunklen, durchsetzungskräftigen Stimme. Es war unglaublich, wie der mit Hunderttausenden Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz kommunizierte, wie die Leute an seinem Mund hingen und jedes Wort begierig von ihm aufnahmen, wie sie ihm mit Sprechchören, großem Applaus oder mit Klingeln ihrer Schlüsselbunde antworteten.
Kurz vor Jahreswechsel war das alte System weg, Havel auf der „Burg“, auf die ihn die Leute vermutlich auch auf ihren Schultern getragen hätten. Den Slogan „Havel na hrad“ hatte ich auch mit meinen sehr fragwürdigen Tschechisch-Kenntnissen verstanden. Wie ich diese Sprachkenntnisse verbessert habe, erzähle ich besser nur kurz. Ich bekam über vier Wochen je zwei Stunden frei, um mir bei einer Tschechin Grundkenntnisse anzueignen. Die Tschechin war leider keine richtige Lehrerin und somit etwas hilflos. Ihr Mann aber arbeitete in einem tschechischen Restaurant in Ost-Berlin. Und so befassten wir uns auf meinen Vorschlag hin mit dem Inhalt tschechischer Speise- und Getränkekarten. Das sollte mir später in Prag tatsächlich helfen, nicht zu verhungern oder zu verdursten. Und in den Kneipen dort nicht vor abenteuerlichen Begriffen zu kapitulieren wie „Smažený hermelín“ oder „Španělský ptáček“.
Als ich mich als Korrespondent ordentlich in der Präsidialkanzlei, dem Außenministerium und im Regierungsamt vorstellte, hinterließ ich überall den dringenden Wunsch, recht bald exklusiv mit dem Herrn Präsidenten reden zu können. Um es vorweg zu nehmen: Es hat sieben Jahre (!) gedauert, bis ich mein erstes Interview mit Václav Havel bekam. Die Warteliste war leider sehr sehr lang.
Ich hatte immerhin Zeit, bis zu diesem für mich historischen Treffen zu beobachten, wie sich Tschechen und Slowaken beim Aufbau einer neuen Ordnung anstellten. Für mein altes Radio arbeitete ich da schon lange nicht mehr. Die DDR war mittlerweile verschwunden und das DDR-Radio auch. Aber ich schrieb von Prag aus für eine immer größer werdende Zahl von Zeitungen im deutschsprachigen Raum.
Das Beobachten war insofern für mich besonders interessant, weil ich regelmäßig auch bei meiner Familie in Ost-Berlin und später in Dresden war und so hautnah Vergleiche anstellen konnte. Dabei fiel mir ein gravierender Unterschied auf: Während die Ostdeutschen relativ lange bei Helmut Kohl die Banane einforderten, war den Tschechen sehr schnell klar, dass sie kein West-Tschechien hatten, das sie „pampern“ würde. Die Tschechen packten von sich aus an, erinnerten sich an den „Homo oeconomicus“ in sich, und verwandelten das Land in rasender Eile. Die sogenannte kleine Privatisierung bereitete mir die schönste Zeit in Prag. In den Läden wurde man plötzlich nicht mehr angeblafft, sondern wie ein richtiger „Kunde“ behandelt. Freundlich, zuvorkommend, hilfreich. Leider hielt die schöne Zeit nur so lange an, bis die Beschäftigten von den neuen Chefs auch übernommen wurden. Danach war es vorbei mit der Kunden-Herrlichkeit.
Die große wirtschaftliche Wende vollzog das Land unter Václav Klaus. Der hatte sich in der Revolutionszeit selbst den ökonomisch eher ahnungslosen Dissidenten angeboten und ein Konzept in der Tasche, das sich an Margaret Thatcher anlehnte. Das mit der großen Privatisierung verlief nicht annähernd so reibungslos wie die der kleinen Firmen. Man erinnert sich der berühmten Kupons, die mehr oder weniger alle bei Investionsfonds landeten und dann gern auch zur so genannten Tunnelierung zahlreicher Firmen führten. Es mangelte an einem ordentlichen Rechtsrahmen, der solche schlimmen Auswüchse hätte verhindern können. Unvergessen die Rede Václav Havels 1997 im Prager Rudolfinum, die zu einer Abrechnung mit Klaus wurde. Der sei verantwortlich für die „blöde Laune“ der Tschechen. Spätestens da war es um das immer ambivalente Verhältnis der beiden Wenzels, Havel und Klaus, geschehen. Vieles in der Wirtschaft hat aber auch funktioniert. Ein Stichwort nur: die Eingliederung von Škoda-Auto in den Volkswagenkonzern. Wir überhaupt viele deutsche Firmen mit großer Investitionsbereitschaft kamen.
Jahre vorher schon hatten sich Klaus und der Wahlsieger der Slowaken 1992, Vladimír Mečiar, so miteinander verhakt, dass der gemeinsame Staat den Bach runterging. Ich gehörte zu denen, die damals eine Volksabstimmung für richtig hielten. Freilich war die Frage nicht, ob Tschechen und Slowaken weiter zusammenleben wollten – sondern wie. Darauf gab es keine Antwort. Der Sekt in der Neujahrsnacht 1992/93 wurde dann schon in zwei verschiedenen Staaten getrunken. In Deutschland hatte man Sorge, ob Tschechen und Slowaken die Trennung wohl friedlich hinbekommen würden, was ich völlig absurd fand und auch in meinen Artikeln schrieb. Dass ich mich in der Folge sehr gefreut habe, dass die Slowakei – anders als viele Tschechen meinten – ohne ihre Nachbarn nicht im Westen unterging, gehört hier unbedingt dazu.
Als Havel als tschechischer Präsident abtrat, war sein Land schon kein ungewöhnliches mehr. Es hatte den Zauber der Revolution lange hinter sich gelassen, war ein normaler demokratischer Staat geworden, Teil der Nato und stand kurz vor dem Beitritt zur EU.
Auch das schwierige Verhältnis zu Deutschland wurde freundlicher. Immerhin waren beide Länder nun auch Verbündete. In Prag brach nicht immer gleich Panik aus, wenn die Sudetendeutschen ihr alljährliches Pfingsttreffen abhielten. Die Menschen vor allem im Grenzraum kümmerten sich eh um die praktische Zusammenarbeit und ignorierten die politischen Scharmützel kleinerer oder größerer Art.
Dass unsere deutsche Minderheit bis heute diskriminiert ist, gehört zu den traurigen Kapiteln der 30-jährigen Geschichte seit der Samtrevolution. Die Erlebnisgeneration wird wohl nicht mehr erleben, dass diese Diskriminierung aufgehoben wird – etwa beim früheren Eigentum und bei den Renten. Das ist betrüblich genug, weil hier immer noch die Kollektivstrafe aus der Zeit von Edvard Beneš gilt.
Langweilig wurde es mir in Tschechien nie. Namentlich in der Politik gab es immer mal was Neues. Etwa einen sogenannten Oppositionsvertrag, mit denen sich die beiden großen Parteien ČSSD und ODS gegenseitig die Macht teilten. Die beiden starken Männer, Klaus und Miloš Zeman, waren der festen Überzeugung, dass Tschechien irgendwann ein Zweiparteiensystem wie die USA haben werde. Irrtum: Die ODS kommt heute nicht mehr so richtig aus der Rolle einer Oppositionspartei heraus, die ČSSD geht in der Regierung Babiš zielstrebig ihrem Ende entgegen. Einer Regierung, die erstmals nach 30 Jahren von den alten, ungewendeten Kommunisten abhängig ist. Havel würde sich angesichts dieser Konstellation in seinem Grab auf dem Prager Weinbergfriedhof umdrehen.
Ich erlebte auch, wie Tschechien politisch auf den Zug des Populismus aufsprang, der auch anderenorts seinen Siegeszug feierte. Mit Babiš wird das Land von einem Oligarchen geführt, der sich mit sozialen Wohltaten seine vor allem ältere Wählerschaft sichert. Zeman nannte den US-Präsidenten Trump einen „Mann mit Eiern“, was dennoch nicht dazu führte, dass er eine Einladung ins Weiße Haus bekam. So biedert er sich in Moskau und China an. Als Zeman seine Wiederwahl geglückt war, schrieb ich in dieser Zeitschrift, das Prager „Kaffeehaus“ solle nicht verzweifeln; Zemans zweite Amtszeit sei auch irgendwann vorbei. Das dürfte auch eine Erleichterung für die Journalistenkollegen des Landes werden. Der kommende Präsident dürfte kaum wie Zeman seine Einführungsrede in sein Amt mit scharfen Angriffen auf die schreibende oder sendende Zunft „garnieren“. Bleibt die Hoffnung, dass die Kollegen bis dahin nicht die „Schere im Kopf“ völlig verinnerlicht haben.
Entscheidend ist bei einem solchen Rückblick natürlich vor allem das Gefühl der Bevölkerung dieses Landes selbst. Die muss sich wohlfühlen – oder andere Politiker wählen. Oder zumindest ihre Demonstrationsfreiheit ausnutzen. Wie viele Menschen am 30. Jahrestag der „Samtrevolution“ demonstrieren werden, ist zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, völlig offen. Ich habe die Hoffnung, dass es viele sein werden. Diese Hoffnung nährt sich auch aus meiner Erfahrung, dass Tschechen gern in der kalten Jahreszeit auf die Straßen gehen. Weil sie sich im Sommer schlicht und ergreifend um andere Dinge kümmern müssen, die da eindeutig Vorrang haben: Der Garten und die Chata.
Was ist noch zu sagen? Erst einmal Glückwunsch zu 30 Jahren in einer freiheitlich demokratischen Ordnung! Ich habe in fast 30 Jahren in Prag vor allem eine Menge über dieses Land gelernt. Und so kann ich mich im Nachhinein nur dazu beglückwünschen, dass ich 1990 unbedingt hierher wollte. Wie es in diesem Land weitergeht, wird sich zeigen. Wir Journalisten werden es sachlich und kritisch begleiten. Auch im LandesEcho.