Nachdenken über Václav Havel, der heute 80 geworden wäre
Am späten Mittwochabend, wenn die Tschechen der zahllosen Feiern zum 80. Geburtstag ihres langjährigen Präsidenten Václav Havels müde sein werden, bietet das zweite Programm des öffentlich-rechtlichen Prager Fernsehens eine Art Kontrast: In einer Livesendung werden vier „Deutschlandexperten“ darüber debattieren, ob die Tschechen wieder Angst vor den Deutschen haben müssen.
Diese Fragestellung ist nicht etwa aus der politischen Mottenkiste geholt, wie zu Zeiten, als es opportun war, vor den „revanchistischen Sudetendeutschen“ zu warnen, die angeblich bis an die Zähne bewaffnet an Tschechiens Grenzen stünden, um die alte Heimat wieder zu erobern und den Tschechen ihre Häuschen wegzunehmen. Diese Frage erwuchs vielmehr aus dem aktuellen Geschehen: dem Brexit, der Migrationskrise und der Sorge, ob Deutschland die EU nach dem Ausscheiden der Briten noch nachhaltiger dominieren werde.
Havel hat Anfang der 1990er Jahre schon einmal auf eine ähnliche Frage geantwortet. Ob er Angst vor der Wiedervereinigung Deutschlands habe, wurde er da in einem der wöchentlichen Interviews auf seinem Sommersitz auf Schloss Lány gefragt. Man muss hinzufügen, dass diese Frage unausgesprochen einen zweiten Teil beinhaltete: den nämlich, dass sich damals schon Trennungsgelüste zwischen Tschechen und Slowaken bemerkbar machten. Wie soll ein kleineres Tschechien mit dem deutlich stärker werdenden vereinigten Deutschland umgehen, lautete also im Grunde die Frage. Havel verzog keinen Mundwinkel, als er antwortete: „Ich habe keine Angst vor einem deutschen Koloss. Und das aus dem einfachen Grunde, weil dieser Koloss ein demokratischer sein wird.“ Das war großes Kino für die Tschechen. Seit der Zeit des Staatsgründers Tomáš G. Masaryk galt das Schema, dass das Land, die damalige Tschechoslowakei, immer hin- und her gerissen sein werde, Spielball der Großen in Europa, Deutschland und Russland. Vor wem müssen wir mehr Angst haben, lautete Masaryks Frage.
Da ich einer der vier Diskutanten in eingangs erwähnter Fernsehsendung sein werde, habe ich das Zitat von Havel extra noch einmal in meinem Archiv gesucht und gefunden. So kann ich mit Havel an dessen Geburtstag wenigstens argumentieren, wenn ihm schon nicht mehr gratulieren. Auf andere Fragen hat Havel keine klugen Antworten hinterlassen. Schon deshalb nicht, weil sich seit seinem Tod vor fast fünf Jahren Europa massiv verändert hat.
Zwar gab es auch zu seinen Zeiten schon ein Migrationsproblem, aber die Tschechen reagierten darauf wie die benachbarten Deutschen: sie ignorierten es und überließen es weitgehend den südlichen Ländern Spanien, Italien oder Griechenland. Sie selbst – Tschechen wie Deutsche – waren von „sicheren Drittstaaten“ umgeben und hätten Migranten sofort in selbige zurückschicken können. Auf die Frage, was Havel vom Flüchtlingskurs Angela Merkels gehalten hätte, mit dem die erwähnte „Drittstaaten-Regelung“ aus humanitären Gründen ausgehebelt wurde, lässt sich somit so leicht auch keine Antwort finden.
Sicher scheint mir, dass Havel scharf gegen die unwürdige Art des Umgangs des Innenministeriums in Prag mit Migranten protestiert hätte. Er, der ein überzeugter Europäer war, hätte in jedem Fall Humanität eingefordert. Ob er auch einer Quotenregelung zur gerechten Verteilung der Migranten über alle europäischen Staaten zugestimmt hätte, wissen wir nicht. Als nicht nur Europäer, sondern auch Tscheche wäre er vermutlich aber auch pragmatisch an diese Sache heran gegangen: er hätte die Frage gestellt, wie man die Migranten in seinem Land festhalten solle, wenn die am Ende doch gar nicht hierher wollten, sondern beispielsweise lieber nach Deutschland. Aber er wäre nicht bei diesem resignativen Ansatz geblieben, sondern hätte die Prager Regierung aufgefordert, einen Ausgleich dafür zu leisten. Etwa mit deutlich mehr finanziellem und personellem Engagement in den Flüchtlingslagern außerhalb Syriens, in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Das, was die Tschechen jetzt gemeinsam mit den anderen Staaten der Visegrád-Gruppe zu praktizieren beabsichtigen, Stichwort: Flexible Solidarität. Nur mit einem Jahr Verspätung.
Sicher hätte er weiter als bis zum tschechischen Tellerrand gesehen als seine Nachfolger Václav Klaus und Miloš Zeman. Ersterer macht sich für die AfD in Deutschland stark. Der aktuelle Präsident hat am Wochenende vorgeschlagen, „Wirtschaftsflüchtlinge“ auf leeren griechischen Inseln oder in unbewohnten Gebieten Nordafrikas zu internieren. Derlei wäre einem Havel nicht einmal im Ansatz eingefallen. Wie ihn auch nur die Idee angewidert hätte, gemeinsam mit Klaus und Zeman zu einem Diskussionsforum nach Rhodos zu fliegen, das jedes Jahr von einem Putin-Vertrauten abgehalten wird, der als Person völlig zurecht auf der Sanktionsliste der EU steht.
Und der Brexit? Havel hätte die Entscheidung der Briten zutiefst bedauert. Und er hätte im Vorfeld versucht, die Briten davon abzuhalten. Auch anders als seine Nachfolger. Klaus hatte gemeint, die Briten würden sich anders entscheiden und war am Ende glücklich über den Ausgang des Referendums. Dass derselbe Klaus jetzt vor einer Dominanz der Deutschen infolge des Bexit warnt, steht auf einem völlig anderen Blatt, ist aber typisch für ihn. Und Zeman? Der drückt bei den US-Präsidentschaftswahlen Donald Trump gegen Hillary Clinton die Daumen. Bei Havel wäre auch das ebenfalls undenkbar gewesen. Und das nicht nur, weil er in seiner Amtszeit Bill Clinton in den Prager Jazzkeller Reduta einlud, wo er dem damaligen US-Präsidenten ein Saxophon schenkte, auf dem dieser sofort umjubelt spielte. Havel ist bis heute in den USA eine Ikone. Der 28. September – der tschechische Namenstag für Václav – wurde in diesem Jahr in New York zum Václav-Havel-Tag erklärt.
Havel war schlichtweg anders als heutige Politiker. Keith Richards, der Gitarrist der Rolling Stones, sagte dieser Tage: „Václav Havel ist der einzige Politiker, bei dem ich stolz bin, ihn getroffen zu haben.“ Man kann davon ausgehen, dass der Musiker bei dieser Aussage nicht unter Drogen stand wie so häufig in seinem Leben. Der Mann ist immerhin mittlerweile 72. Im Alter wird man weiser. Das dürfte auch für Richards gelten.
Das Problem bei all dem hier Geschriebenen: Vieles davon ist Fiktion. Ich habe Havel zwar in meinen vielen Jahren in Prag mehrfach exklusiv sprechen können, habe immer akribisch verfolgt, was er sonst so gesagt hat, nehme für mich in Anspruch, ihn ein klein wenig gekannt zu haben. Ich hätte ihm heute gern die Hand geschüttelt und ihm zum 80. Geburtstag alles Gute, vor allem Gesundheit, gewünscht. Aber ich hätte ihn bei dieser Gelegenheit vor allem dringend um ein neues Interview gebeten. Wegen der vielen Fragen, die ich an ihn habe. Fragen, die er jetzt nicht mehr beantworten kann. Schade. Sehr schade!
In meinem Nekrolog am Todestag Havels, dem18. Dezember 2011, hatte ich geschrieben: „Er wird fehlen. Nicht nur den Tschechen.“ Damals habe ich aber ehrlich gesagt nicht gedacht, dass er dermaßen fehlen wird. Den Tschechen, Europa und der Welt.
Die Sendung „Souvislosti Jana Pokorného“ ist am 5.10. ab 22.30 auf ČT 2 zu sehen und danach auf den Internetseiten des tschechischen Fernsehens: hier.
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