Da ich das kommende Wochenende nicht in Prag, sondern in Ostrava verbringe, kann ich leider am Samstag nicht das wichtige Spiel meines Lieblingsvereins Borussia Dortmund um den dritten Platz in der Fußball-Bundesliga sehen, der für die direkte Qualifikation für die nächste Saison der Champions League erforderlich ist. Ich bin via Internet auf einen sogenannten Live-Ticker angewiesen, der mich wenigstens schriftlich minutenaktuell über den Stand der Dinge im Dortmunder Westfalenstadion informiert.
Wie es derzeit aussieht, bräuchte eigentlich auch die aktuelle Prager Regierungskrise einen solchen Live-Ticker. Hier geht es drunter und drüber, gilt nicht mehr, was gerade noch galt, ändern sich fortlaufend die Meinungen.
Petr Honzejk, Kommentaror der Hospodářské noviny, titelte seinen Meinungsbeitrag in der Freitag-Ausgabe: „Tschechien wird zum Epizentrum der Peinlichkeit“. Und er zitierte nicht genannte ausländische Diplomaten mit den Worten, solch eine Schande hätten sie live im Fernsehen in einem Land der EU noch nicht gesehen. „Wir sind – kurz gesagt – wieder einmal in einer Disziplin ‚die Besten'“, fügte der Kollege frustriert hinzu.
Honzejk beurteilte in erster Linie die tragikomische Aufführung vom Donnerstag auf der Prager Burg. Stichwort: Präsident Miloš Zeman nimmt ein Rücktrittsgesuch von Premier Bohuslav Sobotka an, das dieser gar nicht beantragt hatte. Er wies ihm vorher mit seiner Gehhilfe seinen Platz an einem eigenen Mikrofon zu, obwohl Sobotka gar nichts zu sagen hatte. Als der dann die Gründe für seinen Standpunkt in der Krise erklärte, verließ Zeman demonstrativ den Saal. Alles live und in Farbe im Fernsehen zu bestaunen. Auch ich als Zuschauer meinte, im falschen Film zu sein.
Ordnung im Chaos
Versuchen wir noch einmal, ein bisschen zu ordnen: Fünf Monate vor dem Ende einer der erfolgreichsten Regierungen, die Tschechien je hatte, kommt dem Regierungschef der auf den ersten Blick unverständliche Einfall, seinen Rücktritt einzureichen. Hintergrund: Er will auf diese Weise seinen wichtigsten innenpolitischen Widersacher loswerden – Finanzminister Andrej Babiš. Dessen mutmaßliche Steuerhinterziehungen im Zusammenhang mit Schuldscheinen von Agrofert seien so schwerwiegend, dass sie die ganze Regierung belasteten. Sobotkas Kalkül: Zeman wird – wie das bisher in Tschechien üblich war, mit ihm die komplette Regierung abberufen, inklusive Finanzminister Babiš. Sobotka war sogar bereit, einem anderen Sozialdemokraten für den Rest der Legislaturperiode den Sessel des Premiers zu überlassen. Hauptsache, Babiš sei weg.
Sobotka hätte natürlich auch nur die Entlassung des Finanzministers beantragen können. Davor scheute er zurück, weil er Babiš auf diese Weise nicht vor den Parlamentswahlen zum „Märtyrer“ machen wollte.
Ich denke an diesem Punkt das, was viele in diesem Land denken: Sobotka ist (weshalb eigentlich so spät?) bewusst geworden, dass die Wähler alle Erfolge der Regierung vor allem als Erfolge von Babiš ansehen. Tschechien hat EU-weit die geringste Arbeitslosenrate, hat erstmals ein Budget mit einem Überschuss, die Löhne und Gehälter beginnen zu steigen und so weiter. Doch in den Umfragen steigen nur die Präferenzen für Babiš‘ ANO. Die liegen bei mittlerweile 31 Prozent. Sobotkas Sozialdemokraten ČSSD sind auf 12 Prozent abgesackt. Also sucht Sobotka einen Befreiungsschlag. Er will den erfolgreichen Babiš kalt gestellt sehen. In der Hoffnung, dass sich die Chancen seiner Sozialdemokraten vor den Wahlen im Oktober erhöhen.
Sobotka weiß zumindest im Hinterkopf, dass er Vabanque spielt. Immerhin bringt er selbst Zeman ins Spiel, der nach der Verfassung über das Wohl und Wehe der Regierung entscheidet, sobald diese ihren Rücktritt einreicht. Sobotka weiß um das enge Verhältnis zwischen Zeman und Babiš. Und er weiß auch, welch schlechte Karten er selbst bei Zeman hat. Der hat ihm nie verziehen, dass Sobotka zu den Sozialdemokraten gehörte, die einst seine Wahl zum Präsidenten verhindert haben. Sobotka weiß, dass Zeman rachsüchtig ist. Er weiß, dass Zeman nach der letzten Parlamentswahl versucht hat, ihn bei einem Geheimtreffen mit anderen Sozialdemokraten in Lány wegzuputschen. Summiert man dieses Wissen, dann hätte Sobotka klar sein müssen, dass seine seltsame Idee einer Demission der Regierung nur mit einem klassischen Eigentor im Fußball zu vergleichen ist.
Abberufen – aber wen?
Weiter: Als Sobotka Wind davon bekommt, dass Zeman nicht die ganze Regierung (inklusive Babiš) abberufen könnte, sondern nur ihn als Premier – auch wenn das nicht üblich wäre in Tschechien – rudert er zurück. Er fährt am Donnerstag auf die Burg zum Präsidenten. Aber nicht, um seinen und damit – wie er bislang meinte – den Rücktritt der ganzen Regierung zu initiieren. Er will ausloten, wie Zeman tatsächlich vorgehen wird.
An dieser Stelle kommt dann die hochnotpeinliche Auseinandersetzung vor laufenden Kameras und Mikrofonen. Angeblich schlief Zeman morgens um 7 Uhr noch, als ihm aus dem Regierungsamt mitgeteilt wurde, dass Sobotka nur zu Konsultationen zu ihm kommen werde, nicht, um den Rücktritt einzureichen. Zemans Leute geben sich trotzig und bereiten den Saal auf der Burg so vor, als würde Sobotka demissionieren. Zeman bedankt sich beim Premier ungeachtet der völlig neuen Lage für die geleistete Arbeit und wünscht ihm alles Gute für den Rest des Lebens. „Gott schütze Sie, auf Wiedersehen“, endet er seinen Auftritt genüsslich. Sobotka und die Fernsehzuschauer staunen fassungslos. Immerhin findet der Premier eine Antwort, die Zeman aber schon nicht mehr hören mag. Er verlässt den Saal. Unter den grinsenden Blicken seiner Hofschranzen. Die oberste Hofschranze, Pressesprecher Ovčáček, macht noch ein paar Fotos, die er später per Twitter in die Welt zwitschert. Das Foto mit Sobotka allein am Mikrofon untertitelt er: „Letzte Worte des Premiers“.
Szenenwechsel: Am frühen Abend ist Babiš Gast im Live-Interview bei ČT24. Seine Interviewerin hat für die halbe Stunde meiner Meinung nach gute Chancen, mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet zu werden. Mit Engelsgeduld wiederholte sie ihre Fragen bis zum Erbrechen, um Babiš zu vernünftigen Antworten zu bewegen. Der aber nutzte die halbe Stunde vornehmlich, um sich im untersten Stammtischniveau über den Premier zu äußern.
Hörspiel mit Folgen
Das erinnerte an eine von zwei Audio-Aufnahmen, die in den sozialen Netzwerken zunächst anonym und später vom Nachrichtenportal Forum24 veröffentlicht wurden. Dort äußert sich Babiš ziemlich abenteuerlich über einige seiner sozialdemokratischen Regierungskollegen. Über Außenminister Lubomír Zaorálek sagt er dies: „Wenn ich den Zaorálek treffe, dann schicke ich ihn zum Teufel. So ein Idiot, vollkommen unfähig ist der.“ Auch Premier Sobotka kommt in der Aufnahme schlecht weg: „Ein Trottel ist Sobotka. Er ist das größte Schwein, das ich je kennengelernt habe.“ Arbeits- und Sozialministerin Michaela Marksová beurteilt er folgendermaßen: „Diese Kuh Marksová macht sowieso nichts die ganze Zeit außer zu saufen.“
Bizarr auch die zweite Aufnahme, die ein Gespräch Babiš‘ mit einem Redakteur der ihm de facto gehörenden Zeitung Mladá fronta DNES enthält. Der hat kompromittierendes Material vor allem über sozialdemokratische Politiker gesammelt. Babiš gibt dem Redakteur Instruktionen, wann er das veröffentlichen sollte, um die richtige Wirkung vor den Wahlen zu erzielen. Die redaktionellen Chefs der Zeitung entlassen nach Bekanntwerden der Aufnahme den Journalisten sofort und entschuldigen sich bei den Lesern.
Der Vorgang gibt aber nun wieder Premier Sobotka ein Faustpfand in die Hand. Er twittert: „Oft habe ich von Andrej Babiš gehört, dass er keinen Einfluss auf seine Medien nehme. Jetzt zeigt sich, dass dies glatt gelogen war.“
Nachspielzeit
Der Präsident verteidigt dagegen Babiš weiter. Im TV-Sender Barrandov sagt er am Donnerstagabend offen, dass er am liebsten nur den Premier entlassen würde. Als neue Kandidaten für das Amt benennt er Außenminister Zaorálek und den Chef der Christdemokraten, Pavel Bělobrádek.
Eine Nacht später, am Freitag, schlägt Sobotka zurück: Er revidiert seine ursprüngliche Entscheidung zum Rücktritt der Regierung und beantragt bei Zeman die Entlassung nur von Finanzminister Babiš. Das hätte er von Beginn an machen sollen, sagen viele.
Auf der Burg ist es aber bereits Freitag nach eins. Wochenende. Der Präsident werde sich erst am Montag mit dem Entlassungsgesuch befassen, lässt sein Sprecher verlauten.
Fortsetzung folgt. Neue jähe Wendungen nicht ausgeschlossen. Aber vermutlich nicht Samstag. Wie schön: Ich kann mich in Ruhe dem Live-Ticker aus dem Dortmunder Westfalenstadion widmen. Den Regierungs-Live-Ticker gibt es dann vermutlich am Montag wieder.
Bis dahin uns allen ein ruhiges Wochenende!
{flike}