Bereits im August 2021 lief das Historiendrama „Nahschuss“ in den deutschen Kinos an. Nun eröffnet das DDR-Drama mit Lars Eidinger in der Hauptrolle am 20. Oktober die 16. Ausgabe von „DAS FILMFEST“ in Prag. Unsere Autorin hat sich den Film der Regisseurin Franziska Stünkel angesehen.
Als der junge Franz Walter (Lars Eidinger) seine Promotion an der Humboldt-Universität in Berlin erfolgreich beendet, wird ihm unmittelbar eine Professur in Aussicht gestellt. Das Angebot ist mit einer Anstellung im Auslandsnachrichtendienst der DDR verbunden und lockt den Wissenschaftler mit ungekannten Vorzügen. Zunächst kann Franz den neugewonnenen Luxus gemeinsam mit seiner Verlobten Corina (Luise Heyer) genießen und auch sein Führungsoffizier Dirk Hartmann (Devid Striesow) erscheint ihm anfangs als Freund und Mentor. Doch schnell entpuppt sich die Arbeit für den Geheimdienst als mehr denn nur Informationsbeschaffung aus dem feindlichen Westen und Franz kann die Mittel, zu denen er selbst greifen muss, nicht lange mit seinem Gewissen vereinbaren. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits Teil des unerbittlichen Systems, welches nicht gewillt ist, ihn von seinen Pflichten zu entbinden. Es beginnt ein Kampf ums Überleben, für den kein Risiko zu hoch erscheint, wohl wissend, dass der Geheimdienst jedes gesprochene Wort mithört.
Zeitreise in die DDR
Bereits die Farbgestaltung des Films in blassen bis düsteren Sepia-Tönen lässt die Kulissen wie eine Reise in eine Zeit erscheinen, die heute nicht mehr existiert. Gerade mit dieser farblichen Stimmung spielt der Film auch, wenn es darum geht, verschiedene Orte zu differenzieren. So wurden Szenen in der Haftanstalt beispielsweise in starkem Gegensatz zur allgemeinen Farbgebung in grellem Weiß kontrastiert, was fast schon schmerzhaft ins Auge sticht und die psychische Belastung für den Protagonisten gekonnt untermalt.
Die Kostüme kreieren einen authentischen Eindruck vom Berlin der 80er Jahre, was von den Schauspielern ebenfalls glaubwürdig transportiert wird. Und das alles, ohne die Handlungsorte wirklich von außen zu sehen. Der Film spielt sich hauptsächlich in geschlossenen Räumen ab, die Sicht nach draußen durch Vorhänge verhüllt. Auch die Filmmusik, die stilistisch mehrfach durch den Einsatz von Plattenspielern erzeugt wird, lässt den einen oder anderen Zuschauer sicher nostalgisch werden.
Auf dem Höhepunkt ihres anfänglichen Glücks: Franz (Lars Eidinger) und Corina (Luise Heyer) bei ihrer Hochzeitsfeier im Kreise der Stasi. Foto: DAS FILMFEST
Parallelen zu Werner Teske
Inspiriert wurde das Drama vom Schicksal des Stasi-Hauptmanns Werner Teske, dem letzten Opfer der Todesstrafe in der DDR. Seine Hinrichtung erfolgte am 26. Juni 1981 als „unerwarteter Nahschuss in das Hinterhaupt“. Bis auf ihre Ausgangssituation und ihr tragisches Ende haben Werner Teske und der fiktive Franz Walter jedoch nicht allzu viel gemein.
Franziska Stünkel gelingt es mit „Nahschuss“, die Aufmerksamkeit des Publikums auf fesselnde Weise auf die kaum verbreitete Kenntnis über die Todesstrafe in der DDR zu lenken. Das Drama legt den Fokus zwar viel mehr auf das Schicksal einer fiktiven Einzelperson und den Sog des Systems, in dem diese zwischen Selbst- und Fremdbestimmung hin- und hergerissen wird. Die Aufklärung der Tatsache, dass die offizielle Abschaffung der Todesstrafe im Dezember 1987 für die meisten DDR-Bürger eine große Überraschung darstellte und auch heute noch wenig Wissen über diesen Teil der deutschen Geschichte existiert, ist dabei aber ein willkommener Nebeneffekt.
Schockierend ergreifend
Der Film präsentiert auf gelungene Weise die Entwicklung des Protagonisten von seiner Unkenntnis über die Methoden und eigentliche Arbeit des Geheimdienstes, seiner anfänglichen Skrupellosigkeit bis zur Erkenntnis, die schneller kommt als erwartet und ihn immer heftiger zweifeln lässt. Es ist vor allem ein innerer Kampf zwischen Müssen und Wollen, der sich durch die gesamte Handlung zieht.
Die Geschichte wird von zwei Handlungspunkten aus erzählt, angefangen mit dem bereits gebrochenen Franz Walter, der in der Falle sitzt. Der Film spielt viel mit Emotionen und lässt den Zuschauer teilhaben an der Gefühlswelt und der Zerrissenheit des Protagonisten. Von seinem anfänglich ständigen Strahlen ob der Ungläubigkeit und Begeisterung über sein neues Leben bleibt am Ende nichts mehr übrig, als er sich sowohl psychisch als auch physisch von allen positiven Empfindungen distanziert. Franziska Stünkel erzählt ihre Geschichte nahe am Protagonisten, alles geschieht aus seiner Perspektive, seinem Empfinden heraus. Und auch wenn einige Aspekte ungeklärt bleiben, wie etwa die eindeutigen Motive des Protagonisten, die Stelle bei der Staatssicherheit überhaupt anzutreten oder seine politische Überzeugung, schafft es das Drama dennoch, die Handlung schlüssig zu vermitteln und Empathie zu wecken. Zwischenzeitlich wirkt der Film allerdings etwas dröge, zumindest in Richtung des dritten Akts. Auch macht die graue Stimmung den Film trotz seiner überschaubaren Laufzeit etwas langatmig und Franz‘ inneren Kampf zäh.
Zwar ist das Ende von Beginn an vorbestimmt, es gelingt der Produktion jedoch trotzdem, dieses überraschend und kurzzeitig schockierend herbeizuführen. Franz Walter wird in diesem Historiendrama als Mensch greifbar und sein Ende glüht noch auf der Netzhaut nach, wenn schon der Abspann einsetzt.
Gute Wahl für die Eröffnung von „DAS FILMFEST“
„DAS FILMFEST“ zeigt jedes Jahr eine Auswahl aktueller Filme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Kinematografie spiegelt dabei Themen wider, die in der heutigen Gesellschaft in ganz Europa nachhallen. Mit „Nahschuss“ sehen wir nicht nur ein ergreifendes Politdrama zu DDR-Zeiten, über einen Menschen, der im System gefangen ist und einen chancenlosen Ausstiegskampf führt. Vielmehr lässt sich die Thematik ebenso gut auf die Gegenwart übertragen, denn Schicksale wie das von Franz Walter und manipulierende und verschlingende politische Systeme gehören auch heute nicht der Vergangenheit an. Damit hat das Filmmaterial große Aktualität und verdient aufgrund seiner fesselnden Erzählweise die Aufmerksamkeit der Eröffnung.
„Nahschuss“ wird beim diesjährigen Festival erstmals am Donnerstag, den 20. Oktober, um 18.30 Uhr im Kino Lucerna zu sehen sein. Weitere Vorstellungen wird es im Rahmen des deutschsprachigen Filmfestivals in Brünn (Brno) und Olmütz (Olomouc) geben.