Beim Finale des Eurovision Song Contest in Liverpool ging Deutschland wieder einmal leer aus. Tschechien schaffte es mit dem Beitrag „My sister´s crown“ der Frauenfolkband Vesna auf Platz 10. Unser Autor Felix Häring war live in Liverpool dabei.
Nachdem die ukrainische Gruppe „Kalush Orchestra“ mit dem Titel „Stefania“ im vergangenen Jahr den dritten ESC-Sieg für die Ukraine geholt hatte, wurde der Wettbewerb in diesem Jahr aufgrund des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine im 2022 zweitplatzierten Vereinigten Königreich ausgetragen, wo die Wahl der gastgebenden Stadt auf Liverpool fiel. Da ich bereits bei meinem ersten Eurovision Song Contest 2022 in Turin viele gute Erfahrungen gemacht hatte, war für mich auch immer klar, dass ich in Liverpool dabei sein möchte.
Tschechien ist seit 2007 dabei
Der Eurovision Song Contest (ESC) ist ein europaweiter Musikwettbewerb, der seit 1956 von öffentlichen Rundfunkanstalten der Staaten Europas organisiert wird. Jährlich erreicht die Veranstaltung ein Publikum von über 200 Millionen Zuschauern in ganz Europa und darüber hinaus. Deutschland – vertreten durch den Norddeutschen Rundfunk (NDR) – war als Gründungsteilnehmer mit einer Ausnahme in jedem Jahr vertreten und konnte den Wettbewerb bereits zweimal gewinnen, 1982 mit Nicole und „Ein bisschen Frieden“, sowie 2010 mit Lena und „Satellite“.
Im Gegensatz dazu gehört Tschechien zu den Ländern mit der kürzesten Geschichte im Wettbewerb: Das Land debütierte 2007 mit der der Gruppe „Kabát“ und dem Rocksong „Malá dama“. Das war zwar ein Erfolg im eigenen Land, kam im Halbfinale jedoch auf den letzten Platz. Nach Jahren ohne Erfolg und dem Rückzug vom Wettbewerb kam Tschechien 2015 erfolgreicher zurück und konnte sich mehrfach für das Finale qualifizieren. Höhepunkt bisher war 2018 der sechste Platz von Mikoláš Josef mit dem Song „Lie to me“.
Tschechien und Deutschland im Finale
Den tschechischen Vorentscheid im vergangenen Februar gewann die Folk-Band „Vesna“, die in ihrer Musik traditionelle slawische Motive verarbeitet. Die Bandmitglieder, die sich am Prager Jaroslav-Ježka-Konservatorium kennenlernten, stammen aus Tschechien, Bulgarien, der Slowakei und Russland. In ihrem viersprachig auf Tschechisch, Englisch, Bulgarisch und Ukrainisch vorgetragenen Lied „My Sister’s Crown“ geht es um alle Menschen, die irgendeine Art von Unfreiheit erleben, als Unterdrückung durch Gesellschaft, Trends und Technologie, und es ist ein Symbol dafür, dass diese Menschen eine Krone aufsetzen und sich stark genug fühlen, im aktuellen Kontext ein klares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Am 9. Mai traten sie als einer von 15 Beiträgen im ersten Halbfinale auf, von denen sich zehn für das Finale am Samstag qualifizierten. Auch wenn die internationale Presse „Vesna“ mehrheitlich im Finale sah, war die Anspannung bei der Verkündung der Finalisten spürbar. Umso größer war die Erleichterung, als Tschechien als Finalist genannt wurde. Nach 2016, 2018, 2019 und 2022 war dies der fünfte Finaleinzug und definitiv ein großer Erfolg für das Tschechische Fernsehen (Česká televize), das für den tschechischen Beitrag verantwortlich zeichnet.
Deutschland ist als einer der größten Beitragszahler zum Wettbewerb stets direkt für das Finale gesetzt. Den Vorentscheid im März gewann die Hamburger Band „Lord oft the Lost“, die in ihrer Musik Elemente aus Industrial-Rock, Gothic-Metal, Glam, Wave und Pop verbindet, mit dem Song „Blood and Glitter“. Das Lied handelt davon, dass wir alle eins, vom gleichen Blut sind und dass Musik einen verbindenden Charakter hat. Für die Band, die sich schon mehrfach im deutschen Vorentscheid beworben hatte, ging mit der ESC-Teilnahme ein Traum in Erfüllung.
Das große Finale brachte eine abwechslungsreiche Mischung an Sprachen und Themen. Albaniens Repräsentantin Albina machte es kurzerhand zu einem Familienausflug und brachte ihre gesamte Familie als Hintergrundsänger mit, Österreichs Vertreterinnen beschworen den Geist von Edgar Allan Poe und nach einer langen Eurovisionssaison wollte Luke Black aus Serbien einfach nur schlafen. Brunette aus Armenien besang ihren zukünftigen Liebhaber, während sowohl die Vertreterinnen Polens als auch der Gastgeber mit ihren Songs das Ende der Beziehung verarbeiteten.
12 Punkte für die Ukraine
Die Punktevergabe am Ende der Show wies aus deutsch-tschechischer Sicht Licht und Schatten auf: Erfreulicherweise gaben sich sowohl Tschechien als auch Deutschland gegenseitig Punkte, was bisher nur ein einziges Mal passiert war. „Lord of the Lost“ erhielt letztendlich 18 Punkte und belegte damit den letzten Platz. Freuen können sich hingegen Vesna, die 129 Punkte erhielten und damit den 10. Platz belegten, das zweitbeste Ergebnis in der tschechischen Eurovisionsgeschichte. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Erfolg Grundstein für weitere Erfolge ist und dem Wettbewerb in Tschechien zu größerer Popularität verhilft. Beiden Bands kann nur gedankt für ihre Auftritte werden, mit denen sie ihre Länder würdig vertraten.
Der Sieg sollte eine nordeuropäische Angelegenheit bleiben: Loreen aus Schweden, die bereits 2012 mit „Euphoria“ den Wettbewerb gewann, erhielt für das stark an ihren vorherigen Gewinnertitel erinnernde „Tattoo“ mit großem Abstand die meisten Stimmen der Juries, war jedoch in keinem abstimmenden Land Favorit der Zuschauer. Der finnische Metal-Rap-Song „Cha Cha Cha“ von Käärijä gewann haushoch das Publikumsvotum mit 18 Höchstwertungen von 37 Ländern, was jedoch nicht reichte, um Schweden vom ersten Platz zu verdrängen. Damit ist Loreen nach Jonny Logan (Irland 1980 & 1987) der zweite Interpret mit zwei ESC-Siegen und Schweden kann seinen siebten Gewinn feiern. Das Publikum reagierte mit wenig Begeisterung darauf, dass die Juries den Sieg des Publikumsfavoriten verhindert hatten, rief laut den Titel des finnischen Beitrags und verließ teilweise vorzeitig die Plätze.
Für mich als Fan sind die gemeinsamen Momente mit vielen lieben Freunden wohl relevanter als Platzierungen und daher bleiben viele schöne Bilder in Erinnerung. Während im Vorjahr in Turin zahlreiche organisatorische Pannen und ein generelles Desinteresse der Bevölkerung die Veranstaltung prägten, setzten die BBC und Liverpool als Gastgeber Standards, die schwer zu übertreffen sind. Besonders eindrucksvoll war, wie gelungen stets die Balance zwischen ukrainischen und britischen Elementen ausfiel. Der ESC war im Stadtbild allgegenwärtig und es fand sich kein Schaufenster in der Innenstadt ohne passende Dekoration. Die Freude der einheimischen Bevölkerung, mit Gästen aus aller Welt zu feiern war ansteckend.
2023 bleibt als starker Jahrgang mit großartiger Atmosphäre vor Ort in Erinnerung, auch wenn er für Deutschland wieder keine Erfolge brachte. Tschechiens Resultat hingegen lässt davon träumen, dass ganz Europa vielleicht bald auch einem tschechischen Sieger zujubelt.
Felix Häring ist seit seiner Kindheit ein großer Fan des Eurovision Song Contest. Nachdem der Student aus Leipzig, der sich auch im Deutsch-Tschechischen Jugendforum engagiert, bereits im vergangenen Jahr den Wettbewerb in Turin besuchte, reiste er nun nach Liverpool.