Die Premiers der vier Visegrád-Staaten (V-4) Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei haben maßgeblich das Brüssler Geschachere um die Besetzung der künftigen Spitzenposten in der EU beeinflusst. Ihr Nein zum niederländischen Sozialisten Frans Timmermans als neuem EU-Kommissionschef feierten sie als großen Sieg. Tschechiens Regierungschef Andrej Babiš hatte stellvertretend für alle die rote Linie gezogen: „Timmermans ist für uns unannehmbar, wäre die totale Katastrophe.“

Gemeinsam mit Italien verhinderten sie Timmermans. In der Folge kam es dann zur Nominierung von Deutschlands Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

Mit ihrer sehr selbstbewussten Haltung machten sich die V-4 beim großen Rest der EU mehr neue Feinde als Freunde. Aus der Führung der sozialistischen Fraktion hieß es unter anderem: „Es ist inakzeptabel, dass populistische Regierungen den besten Kandidaten nur deshalb rauskegeln, weil der sich für die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien und unserer gemeinsamen Werte stark macht“.

In jedem Fall ist beim 50-Stunden-Marathon der Staats- und Regierungschefs der seit mehreren Jahren schon sichtbare Graben zwischen West und Ost noch sehr viel tiefer aufgebrochen. Ein Graben, der mehrere Ursachen hat. Die wichtigste und noch immer nachwirkende: die Flüchtlingsfrage. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte es schon im September 2015 auf den Punkt gebracht: „Das Flüchtlingsproblem ist kein europäisches, es ist ein deutsches Problem.“ Danach handelten in der Folge die V-4, die sich abschotteten und – wie im Fall Tschechiens – aufgegriffenen Migranten nach einer mehrwöchigen Internierung in Lagern den Weg zum nächsten Bahnhof mit Zügen Richtung Deutschland zeigten.

Nachdem namentlich Berliner Überredungskünste nicht geholfen hatten, sich doch bitte ein bisschen solidarischer zu verhalten, beging die EU aus Sicht der V-4 einen unverzeihlichen Fehler: Sie verlegte die hochsensible Frage der Aufnahme von Migranten über nationale Quoten in den Entscheidungsbereich der EU-Innenminister. Deren Gremium kann – anders als der auf Einstimmigkeit angewiesene Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs – Entscheidungen mit Mehrheit treffen. Und erwartungsgemäß überstimmte die große Mehrheit der Minister die Ostmitteleuropäer und nahm sie damit in die Pflicht. Im Mai begann vor dem Europäischen Gerichtshof das Verfahren gegen Tschechien, Ungarn und Polen wegen der Ablehnung der Quoten.

Zu denen, die das aus ostmitteleuropäischer Sicht fragwürdige Vorgehen über die Innenministerkonferenz auch im Nachhinein immer verteidigten, gehörte der Niederländer Timmermans. Prags Premier Babiš und seine Kollegen aus den anderen Visegrád-Staaten haben das nicht vergessen. Babiš sagte vor einiger Zeit im Interview: „Es darf nie wieder dazu kommen, dass wir in irgendeinem Gremium der EU überstimmt werden.“ Ein Satz, der mittlerweile zu den Kernsätzen aller Visegrád-Staaten gehört, wenn es um ihre „nationalen Interessen“ geht. Das wurde jetzt in Brüssel an der Personalie Timmermans bis zum Ende durchexerziert.

Timmermans hat sich bei den Ostmitteleuropäern auch unbeliebt gemacht, weil er maßgeblich zu denen gehörte, die Druck auf Polen und Ungarn ausübten, die Prinzipien europäischer Rechtsstaaten einzuhalten. Gegen beide Länder laufen derzeit Rechtsstaatlichkeitsverfahren, die im schlimmsten Fall mit dem Entzug der Stimmrechte innerhalb der EU enden können.

Mit Ursula von der Leyen als neuer EU-Kommissionschefin könnten die Visegrád-Länder deutlich besser leben – glauben sie zumindest. Vor allem tschechische und slowakische Blätter warnen aber: Von der Leyen habe einst eine „europäische Föderation“ als ihre Vision der EU beschrieben. Zudem: Timmermans bleibe als ihr vermutlich erster Stellvertreter so einflussreich wie bisher. Dass auch die in der Slowakei regierenden Sozialdemokraten ihren Parteifreund Timmermans torpedierten, komme einem „Verrat“ gleich. Bratislava habe damit nur geholfen, dass der Ungar Orbán seine Muskeln habe zeigen können.

Das dürfte denjenigen vor allem in Tschechien und der Slowakei Auftrieb geben, die seit langem ein Ende der „Nibelungentreue“ innerhalb des eigentlich nur sehr losen V-4-Bündnisses fordern. Zumal der Poker den Ostmitteleuropäern nichts wirklich gebracht hat. Sie haben zwar jemanden verhindert, sind aber selbst bei den Posten leer ausgegangen. Eine Prager Zeitung ätzte: „Wir können froh sein, wenn unsere bisherige Kommissarin weitermachen darf. Aber vermutlich als „Kommissarin für Fischfang“.“


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