Herbert Haischmann überlebte mit 14 Jahren den Komotauer Todesmarsch. Nach dem Krieg ging er mit der Familie nach Deutschland und machte Karriere als Jurist. / Foto: Arche Noah Filmproduktion

Herbert Haischmann aus Komotau (Chomutov) überlebte den Todesmarsch aus seiner Stadt und die anschließende Lagerinternierung mit nur 14 Jahren. Über seine traumatischen Erlebnisse sprach er mit unserer polnischen Partnerzeitung Wochenblatt.

Im ehemaligen Sudetenland wurden im Zuge der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Lager zur Internierung der Sudetendeutschen eingerichtet. Herbert Haischmann aus Komotau (Chomutov) wurde in das Arbeitslager Maltheuern gesteckt und sollte das zerstörte Wasserwerk wieder mitaufbauen. Sein Schicksal ist eines von vielen deutscher Zivilisten, die im östlichen Europa und in Russland zwischen 1941 und 1955 interniert waren. Jene Geschichten, die in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit gerieten, rückt nun eine Ausstellung wieder ins öffentliche Bewusstsein. Die letzten Zeitzeugen berichten aus ihren Erinnerungen, so auch Haischmann.

WB Herr Haischmann, Sie waren vom 11. Juni 1945 bis zum 13. Oktober 1945 im Lager Maltheuern bei Brüx. Zuvor sind Sie den „Komotauer Todesmarsch“ mitgelaufen, da waren Sie 14 Jahre alt. Wie hat sich der Todesmarsch zugetragen?

Am 9. Mai 1945 wurde Komotau von sowjetischen Truppen besetzt. Mitte Mai kamen die ersten Tschechen. Die Deutschen Inschriften mussten verschwinden. Tschechen warfen Deutsche aus den Wohnungen. Dieses Schicksal traf auch meine Familie. Komotau hatte damals nach meiner Erinnerung etwa 30.000 Einwohner. Man kann sagen, dass der Anteil der Deutschen bei 90 und mehr Prozent lag. Aber am 9. Juni 1945 erschienen plötzlich Plakate in tschechischer und deutscher Schrift, die alle männlichen Bewohner im Alter von 13 bis 65 Jahren auf einen Sportplatz zusammenriefen. Unentbehrliche Männer kamen wieder in Freiheit, weil man sie für Betriebe und ähnliches brauchte.

Dann fanden die Aussonderungen der SS-Leute statt. Sie wurden mit Schlägen in eine Ecke getrieben und dort teilweise erschlagen und angezündet. Die Tötung konnte und musste ich aus einer Entfernung von etwa 15-20 Metern mit ansehen – ein psychisches Trauma, das mich bis heute verfolgt.

Dann begann der Todesmarsch von Komotau, zunächst am Fuß des Erzgebirges entlang, dann über 300 bis 350 Höhenmeter bis zur tschechoslowakisch-deutschen Grenzen. Wer nicht mehr in der Lage war weiter zu marschieren wurde erschossen. Und die Zahl der Opfer beträgt nach tschechischen Aktenunterlagen mindestens 37, nach allgemeinen Schätzungen etwa 70. Ich selbst hatte keine Beschwerden, ich war jung und sportlich, aber es war sehr hart anzusehen, wie körperlich beeinträchtigte oder sehr beleibte Menschen kaum mehr laufen konnten und Atembeschwerden hatten, das ist sehr tragisch.

Ich spreche normalerweise nicht darüber und habe das auch meiner Familie noch nicht erzählt.

Wir kamen am Abend des 9. Juni an und sollten den Sowjetischen Streitkräften übergeben werden. Da die Übernahme abgelehnt wurde, verbrachten wir ein-zwei Nächte teils auf der Straße, teils in Notunterkünften. Dann ging der Fußmarsch weiter in Richtung Maltheuern. Maltheuern war ab 1938 Standort von Wasserwerken. Um diesen Betrieb herum gruppierten sich zahlreiche Lager.

WB Wie sah Ihr Alltag im Lager aus und wie waren die hygienischen Bedingungen?

Das Lager war umzäunt und auch bewacht. Uninformierte Lagerführer, Wachen, Torwachen.  Es war in einem ziemlich ordentlichen Zustand. Es gab Zimmer mit etwa 10-15 Betten. Es gab Strohsäcke, es gab auch zentrale Gebäude wie Duschanlage, Waschhaus, Verwaltungsgebäude, Magazine.

Waschen war nur außerhalb möglich. Die Lagerleitungen legten schon aus gesundheitlichen Gründen großen Wert darauf, dass eine gewisse Sauberkeit und Hygiene eingehalten wurde. Auf der anderen Seite verlieh der Umstand, dass man zum Waschen einen gewissen Weg zurückzulegen hatte, zu einer gewissen Zurückhaltung.

Das Lager war im Vergleich zu manchen anderen Lagern, in denen deutsche Internierte untergebracht waren, relativ human. Es gab früh einen Kaffee, der nur dem Namen nach als Kaffee zu bezeichnen war. Die Tagesration an Brot betrug am Anfang 500 Gramm und steigerte sich dann. Zu Mittag gab es in dem Werk eine breiartige Suppe und am Abend noch einmal dasselbe. Es gab manchmal zu der Brotration ein Stück Margarine, manchmal einen Löffel Marmelade, aber das war dann schon alles.

Es gab unterschiedliche Arbeitsstellen. Ich war unter anderem in der sogenannten Kabelkolonne tätig. Das heißt, wir mussten Kabel etwa in Armdicke in die Erde versenken. Dazu ist es notwendig, dass in Abständen von 4-5 Meter einer das Kabel trägt und dann durch den Kabelgraben wandert und das Kabel auf diese Weise in die gewünschte Lage bringt. Das war eine Schinderei!

Das Lagerleben war sehr fade. Immerhin konnte man Besuch empfangen. Allerdings nur im Stehen und unter Bewachung, und es durften teilweise Essen, aber auch Kleidung übergeben werden. Mein Vater war Soldat, er war also nicht da. Meine Mutter war in Komotau als Bankangestellte tätig. Sie hat mehrfach den Weg von Komotau bis Maltheuern auf sich genommen, um mich zu besuchen. Das sind ungefähr 16 Kilometer zu Fuß. Und Deutsche durften damals die öffentlichen Verkehrsmittel nicht benutzen.

WB Haben Sie in dem Lager Gewalt erfahren?

Ich bin ein einziges Mal erheblich misshandelt worden. Ich war Stubenältester der Stube 1 und die lag unmittelbar am Hauptausgang. Und es kam immer wieder vor, dass von außen Personen das Lager „besuchten“. Phantasievoll uniformiert und teilweise alkoholisiert. Diese Leute, ich weiß nicht, wer sie waren, besuchten unsere Stube und machten eine Stubenkontrolle. Jemand hatte ihrer Vorstellung nach gegen die Ordnung verstoßen, ich weiß nicht mehr genau, was es war. Und daraufhin verlangten sie von mir, diesen Kameraden zu verprügeln. Ich habe das abgelehnt, weil ich a) diesen Verstoß nicht so sah und b) die Kompetenz dieser Leute anzweifelte. Daraufhin haben sie mich erheblich misshandelt. Die Folge ist, dass ich heute schwer höre, weil die Altersschwierigkeiten von dieser Misshandlung begleitet wird.

WB Wie haben Sie es aus dem Lager heraus geschafft?

Der Tschechoslowakische Staatsfeiertag ist der 28. Oktober. Zur Gründung der Ersten Republik. Und zu diesem Tag wurde eine Art Amnestie erlassen. Sie beinhaltete auch, dass jugendliche Internierte bis 14 Jahre auf Antrag entlassen werden. Ich war im Oktober 1945 noch 14 Jahre alt, gehörte aber dem Jahrgang 1930 an. Die Polizei ging nicht nach dem tatsächlichen Alter, sondern nach Jahrgängen. Danach sollte für den Jahrgang 1930 die Möglichkeit zur Entlassung nicht mehr gelten. Als meine Mutter dann vorsprach und sagte, sie möchte ein Entlassungsschreiben für mich, sagte der Polizist, ich sei von der Liste gestrichen. Da sagte meine Mutter geistesgegenwärtig: Dann ist das aber ein Irrtum. Der Polizist ließ sich überzeugen und so bekam ich mein Entlassungsschreiben.

Die ersten Gedanken waren:  Wie geht es weiter, wann kommt der Papa nach Hause und was tun wir? Als mein Vater 1947 aus der Gefangenschaft entlassen wurde, hat er die Meinung, die damals vorherrschte, dass wir wieder nach Hause ins Sudetenland kommen, persönlich absolut verneint. Er hat gesagt, es sei politisch undenkbar, dass so etwas geschieht. 

WB Wie präsent ist das Lager heute noch in Ihrem Leben? Ist es Ihnen gelungen, das Trauma zu verarbeiten?

Das Erlebte begleitet mich seit vielen Jahren. Ich habe mich daran gewöhnt, sodass ich es nicht mehr als belastend empfinde.

Bei der Verarbeitung hat mir sicher auch meine Arbeit in dem Förderverein „Mittleres Erzgebirge und Komotauer Land“ geholfen. Dort bin ich Vorstandsmitglied und wir haben den Plan, zum Gedenken an den Todesmarsch einen Gedenkstein zu errichten, gefasst und realisiert. Das ging vom Ankauf des Grundstücks bis bin zu Verhandlungen mit der zuständigen sächsischen Gemeinde und schloss auch die Bereitstellung der nötigen Mittel ein. Diese Mittel stammen aus Spenden der Heimatvertriebenen aus diesem Vertreibungsgebiet, aber auch aus Nachlässen.

Am Gedenkstein findet alljährlich in der Regel Anfang Juli eine Gedenkstunde statt, die etwa 150-200 Personen empfängt, und dort gibt es Gedenkansprachen und auch ein Rahmenprogramm. Ich habe vor drei oder vier Jahren die Gedenkrede gehalten.

Das Gespräch führte Marie Baumgarten.

 

Die Ausstellung “In Lagern – Schicksale deutscher Zivilisten im östlichen Europa 1941-1955” entstand im Auftrag der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“. Sie war bislang in der Frankfurter Paulskirche zu sehen und wandert nun weiter.

Termine:

  • Wunsiedel, 7.3. – 4.4.2019
  • Wiesbaden, Haus der Heimat 8.4. – 20.5.2019
  • Korbach, 12.8. – 27.9.2019
  • Hannover, November-Dezember 2019

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