Josef Středula, Vorsitzender des Tschechischen Gewerkschaftsbundes ČMKOS, verrät im Gespräch mit dem LandesEcho, warum das Lohnniveau so niedrig ist und warum es sich lohnt für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen.
LE Die Tschechische Republik ist eine hoch entwickelte industrielle Exportwirtschaft. Dennoch ist das Lohnniveau hier, verglichen mit anderen EU-Staaten aber auch anderen postkommunistischen Ländern, wie der Slowakei oder Estland, extrem niedrig. Warum?
Wir haben uns dieses Problem in einer Analyse näher angeschaut und haben mehrere Gründe gefunden. Als erstes liegt es an dem tschechischen Weg der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft. Es kam damals zu einer extremen Devaluation der tschechischen Krone, was bedeutet, dass die Produktionskosten plötzlich anstiegen. Dazu kam, dass die damaligen Politiker beschlossen, billige Arbeitskraft zu einem Konkurrenzvorteil zu machen. Und das dauert eigentlich bis heute an. Als wir uns 1993 geteilt haben, war das Lohnniveau in der Slowakei um ungefähr 25 Prozent niedriger als in Tschechien. Heute ist es so, dass es in der Slowakei etwas höher ist. Also sind wir in den vergangenen 23 Jahren einen solchen Weg gegangen, dass die Slowakei ihr Lohnniveau um mehr als 25 Prozent gegenüber Tschechen erhöht hat. Und dafür gibt es Gründe. Außer der Politik, die ich schon erwähnt habe, hat man hier gesagt, die Leute hätten genug und es sei nicht notwendig, dass der Mindestlohn weiter wächst. Weiter hat den Staat nicht interessiert, wie sich die Investoren, die kamen, gegenüber ihren Arbeitnehmern verhalten haben. Und natürlich wurden die Arbeitnehmerrechte hier weiter ausgehöhlt, so dass sie nicht mitentscheiden konnten, zum Beispiel, was die Zusammensetzung eines Aufsichtsrats betrifft. In Tschechien gibt es kein System der Mitbestimmung, was ich für einen großen Fehler halte und ich glaube hier kann Tschechien in Zukunft noch einiges von Deutschland lernen. Wie sonst kann ein Arbeitnehmer Mitverantwortung lernen? Ich glaube jetzt ist eine gute Zeit über Mitbestimmung zu diskutieren, auch im Hinblick auf Industrie 4.0. Und wenn wir uns das deutsche Modell anschauen, dann sehen wir, dass es ein erfolgreiches Modell ist. Wichtig für das tschechische Lohnniveau ist auch die Frage, in welchem Zustand wir der Eurozone beitreten werden.
LE Wann wird Tschechien das deutsche Lohnniveau erreichen?
Im Rahmen unserer Analyse haben wir auch mal nachgezählt, wie lange es dauern würde, Deutschlands Lohnniveau in Tschechien zu erreichen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird das in etwa 100 Jahren so weit sein. Unter der Voraussetzung, dass die Nationalbank aufhört den Kurs der Krone zu manipulieren.
LE Dabei sind die Lebenshaltungskosten nicht so viel niedriger als in Deutschland. Lohnt es sich überhaupt hier zu arbeiten?
Der Mindestlohn soll jetzt auf 11 000 Kronen wachsen. Wenn man sich die Preise hier anschaut, kann man von so einem Gehalt gar nicht anständig leben. Manche Preise sind hier sogar höher als in Deutschland. Heute beträgt der tschechische Mindestlohn nicht ganz 370 Euro, in Deutschland 1580 Euro. Auf keinen Fall verrichten wir hier nur ein Drittel der Arbeit, im Vergleich mit Deutschland liegt unsere Produktivität bei 66 Prozent. Nicht etwa, dass deutsche Firmen hier ihren Arbeitnehmern überdurchschnittliche Bedingungen anbieten. Manche benehmen sich ihnen gegenüber sogar richtig schlecht und drücken den Lohn noch weiter.
LE Škoda-Auto ist dafür bekannt die besten Löhne landesweit zu zahlen.
Ja, im Vergleich mit anderen tschechischen Firmen. Im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen reichen die Škoda-Arbeiter nicht einmal an den Mindestlohn heran. Dabei ist Škoda ein außergewöhnlich profitables Unternehmen. Und, ich rede jetzt nicht von Škoda-Auto sondern insgesamt, werden pro Jahr rund 390 Millionen Kronen an Nettoprofiten aus der Tschechischen Republik ausgeführt.
LE Ich schätze mal hauptsächlich nach Deutschland.
Ja, weil die meisten Investoren aus Deutschland kommen. Die Realität ist halt so, dass wir für ausländische Investoren ein Paradies auf Erden sind. Warum Arbeitnehmer dafür zahlen sollen, verstehe ich wirklich nicht. Unser Ziel ist daher klar: Wir wollen einen größtmöglichen Lohnanstieg erreichen.
LE Und wie kommen sie da voran?
Wir sind auf einem guten Weg. Dieses Jahr hat sehr positive Entwicklungen gezeigt, die Löhne sind um durchschnittlich 6,5 Prozent angewachsen, was nach all den Jahren ein sehr anständiger Anstieg ist. Logischerweise treibt das auch den Mindestlohn weiter voran. Aber für meinen Geschmack sind wir da noch viel zu weit hinter Ländern wie der Slowakei zurück. Und einen Vergleich mit Deutschland oder Österreich will ich erst gar nicht ziehen – das würde nur für Pessimismus sorgen. Andererseits hindert niemand diese Firmen, höhere Löhne zu zahlen.
LE Deutsche Investoren schaff en hier rund eine halbe Million Arbeitsplätze. Inwiefern versuchen sie auch den sozialen Dialog hier im Land zu beeinflussen?
Das kommt darauf an. Ich kenne eine Firma, ein riesiges deutsches Unternehmen, die noch vor zwölf Jahren versuchte, den sozialen Dialog dadurch zu beeinflussen, dass sie die Bildung von Gewerkschaftsorganisationen verbat. Da kam es natürlich zu einem enormen Konflikt mit uns. Das Ergebnis war, dass wir innerhalb eines Jahres einen Kollektivvertrag abgeschlossen haben. Heute gehört diese Firma zu den profitabelsten Industrieunternehmen im Land, vergleichbar mit Škoda-Auto. Am Anfang war also der Angriff, heute arbeitet sie mit den Gewerkschaften zusammen und alles klappt problemlos. Es geht also auch darum, was sich jemand erlaubt und wie die Reaktion ausfällt. Oft gab es aber auch Fälle, in denen tschechische Führungskräfte sich unverschämt benahmen.
LE Päpstlicher als der Papst?
Ja. Ich kenne Fälle, in denen tschechische Manager ausländischer Firmen mit entsprechendem Spitzengehalt anfingen, hier Gewerkschaftsorganisationen zu liquidieren oder die Löhne noch weiter zu drücken. Oder es gab Drohungen von wegen Standortverlagerung, die einfach unglaublich waren. Siemens zum Beispiel hat hier ziemlich harte Zeiten erlebt, als sie ihr Wagonwerk in Prag schließen wollten. Da kam es zu großen Konflikten und auch zu Streiks. Das Ergebnis war, dass hier rekordverdächtige Abfindungen gezahlt wurden. Und Siemens die Produktion nicht irgendwo nach Osten verlagerte, sondern nach Deutschland und Österreich. Das war aber ein außergewöhnlicher Fall, in dem wir übrigens auch mit unseren Kollegen von der IG Metall zusammengearbeitet haben. Bis heute ist er ein Beispiel dafür, wie man hier anfangs versucht etwas durchzudrücken, was nichts mit seriösem Verhalten zu tun hat.
LE Haben Sie schon öfter die Erfahrung gemacht, dass deutsche Investoren sich hier benahmen, als könnten sie sich alles erlauben?
Ich würde wirklich nicht sagen, dass ein solches Benehmen mit der Nationalität zusammenhängt. Es finden sich immer wieder solche, Verzeihung, Dummköpfe, egal ob sie aus Deutschland, Frankreich, Japan oder sonstwoher kommen. Und dann kommt es halt zum Konflikt. Aber das hat nichts mit der Herkunft der Person oder der Investition zu tun.
LE Manche, der Politologe Petr Robějšek zum Beispiel, vertreten die Theorie, die Tschechische Republik sei ökonomisch gesehen das 17. Bundesland Deutschlands. Wie sehen Sie das?
Ich kenne diese Behauptung. Was die Verbindungen nach Deutschland betrifft, so gibt es sicher einiges, das für sie spricht. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Tschechische Republik nach der Wende sehr viel aufzuholen hatte und dass die Bundesrepublik für uns aus historischen, geographischen und wirtschaftlichen Gründen ein logischer Partner ist. Aber das 17. Bundesland zu sein, das würde auch bedeuten, die gleichen Rechte zu haben, wie die anderen 16 Bundesländer. Und das gleiche Lohnniveau. Und da haben wir noch sehr viel aufzuholen.
LE Die meisten ausländischen Investoren kommen aus Deutschland. Wie eng arbeiten Sie mit den deutschen Gewerkschaften zusammen?
Wir arbeiten sehr gut mit unseren Gewerkschaftskollegen in Deutschland und Österreich zusammen. Wenn wir Hilfe brauchen, können wir uns jederzeit an sie wenden. Es funktioniert aber auch umgekehrt. Unsere deutschen Kollegen wenden sich auch an uns, wenn sie im Rahmen der Mitbestimmung die Möglichkeit haben zu beeinflussen, wie sich „ihre“ Firma hier in Tschechien verhält.
LE Der Discounter Penny zum Beispiel, der der Rewe-Kette gehört? Dort mehren sich ja in letzter Zeit die Beschwerden über das Verhalten des Managements gegenüber den Arbeitnehmern.
Der Einzelhandel und die Discounter sind alle ein Problem. Was da gegenüber den Arbeitnehmern abgeht, ist einfach unglaublich. Deshalb haben wir beschlossen uns einzumischen und die Kampagne „Ender der Billigarbeit im Einzelhandel“ gestartet. Die Verhandlungen werden hart werden, weil hier schon die Grenzen des Erträglichen überschritten wurden. Da heißt es dann oft, wenn wir zu viel fordern, dann werden einfach automatische Kassen eingeführt. Gut, den Fortschritt in diesem Sinne wird niemand aufhalten. Aber das ist noch lange kein Grund dafür seinen Angestellten und Mitarbeitern einen solchen Lohn zu zahlen, dass sie trotz Arbeit arm sind.
LE Das ist sowieso ein erschreckendes Phänomen, dass so viele Menschen hier trotz einer Vollzeitstelle an der Armutsgrenze leben.
Das ist eine katastrophale Angelegenheit. Und in diesem Fall sollte sich vor allem der Arbeitgeber mal überlegen, wie er sich fühlen würde, wenn das sein Kind oder sein Verwandter ist, der so wenig verdient, dass er an oder unter der Armutsgrenze leben muss. Fände er es in Ordnung? Für uns ist das nicht in Ordnung. Ich kann nur an die Arbeitgeber appellieren, sich anständig zu verhalten. Wir Gewerkschaften verlangen einen anständigen Lohn für anständige Arbeit. Alles andere ist unwürdig.
LE Tschechien klagt immer wieder über einen grassierenden Facharbeitermangel. Gleichzeitig sind Löhne und Gehälter niedrig. Ist das für die Gewerkschaften nicht eine hervorragende Verhandlungsbasis? Vor allem, wenn Umfragen immer wieder zeigen, dass junge Menschen aus diesem Land weg wollen.
Aus unserer Sicht ist das eine ideale Kombination. Ich will auch gar nicht leugnen, dass wir das in Zukunft ausnutzen werden. Das Problem ist, dass der Ruf nach neuen Arbeitskräften oft falsch ist. Zum Beispiel: Die Textilindustrie sucht derzeit händeringend nach Näherinnen. Aber schauen Sie sich mal an, was einer Näherin geboten wird. Das sind Löhne von zwischen 9000 Kronen und 14 000 Kronen brutto. Nach Steuer und Versicherung bleibt da nicht mehr viel übrig, da kann man gleich daheim bleiben und Sozialhilfe beziehen. Ist es uns hier in Tschechien wirklich wert, Arbeit zu verrichten, die unter einem Niveau ist, das es uns erlaubt anständig zu leben? Das betrachte ich als völligen Unsinn. Die Arbeitgeber sollen auch gar nicht erst auf billige Arbeitskräfte aus der Ukraine hoffen. Unser Prinzip lautet: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal welche Nationalität der Arbeitnehmer hat.
LE Zurück zu den Facharbeitern. Im Rahmen der vierten industriellen Revolution, kurz Industrie 4.0, werden immer mehr qualifizierte Facharbeiter gebraucht werden. Woher wird man sie nehmen?
Wenn ich Unternehmer höre, die über den Facharbeitermangel jammern, frage ich sie gerne, ob sie ihre Kinder in die Lehre schicken würden. Natürlich würden sie das nicht machen, weil man mit Lehrberufen hier kein Geld verdient. In Deutschland mit seinem dualen System erhält ein Lehrling im dritten Lehrjahr 1500 – 1600 Euro. Das ist fast der doppelte tschechische Durchschnittslohn. Ein Lehrling. Bei uns bekommt er, wenn er Glück halt, mal 100 Kronen Taschengeld. Verantwortungsvolle Eltern schicken ihre Kinder hier nicht in die Lehre. Da zahlen sie ihnen lieber eine private Ausbildung, damit sie wenigstens einen Titel haben und nicht in die Fabrik müssen. Ich bin sehr für ein duales Ausbildungssystem. Und zwar so wie in Deutschland, wo der Lehrling schon ein Angestellter seiner Lehrfirma ist und einen angemessenen Lohn erhält. Aber das würde man hier am liebsten umgehen.
LE Wie bewerten Sie die Rolle der Gewerkschaften hier in Tschechien allgemein?
Es gibt sie, sie funktionieren und in den letzten Jahren sind sie immer erfolgreicher geworden. Allein zwischen Juni 2015 und Juni 2016 ist die Gewerkschaftsbasis um 13 000 neue Mitglieder angewachsen. Das ist eine enorme Anzahl von Neumitgliedern, selbst politische parlamentarische Parteien haben nicht so viele Mitglieder. Und allein in diesem Zeitraum haben wir 105 neue Gewerkschaftsorganisationen gegründet. Dazu muss ich natürlich auch sagen, dass die derzeitige Regierung den sozialen Dialog fördert, was unheimlich wichtig ist.
LE Der Sprung in die Parteipolitik lockt Sie nicht? Sie werden vielerorts als die große Hoffnung der tschechischen Sozialdemokratie gehandelt.
In der Politik bin ich ja schon. Den Rest kommentiere ich lieber nicht, ich habe mich auch noch nie dazu geäußert. Wenn mich jemand als politische Hoffnung bezeichnet, dann sehe ich das als ein Lob für die Arbeit des Tschechischen Gewerkschaftsbundes. Wobei ich allerdings nur ein Teil eines hervorragenden Teams bin. Wenn auch der, der am meisten gesehen wird. Aber ich möchte betonen, dass ich Arbeitnehmerinteressen jedem Politiker und jeder Partei gegenüber vertreten werde. Gewerkschaften müssen politisch sein, sie dürfen aber nicht parteiisch sein.
LE Sie stammen aus Hultschin (Hlučín). Haben Sie auch deutsche Wurzeln?
Ja, die habe ich. Wenn ich wollte, könnte ich das auch belegen, aber ich glaube im heutigen Europa ist das nicht mehr nötig. Aber ich stamme aus einem Gebiet, das mit der deutschsprachigen Geschichte dieses Landes verbunden ist, auch wenn sie etwas komplizierter ist. Ein Teil meiner Familie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch vertrieben, so habe ich auch Verwandte in der Bundesrepublik.
Dieses Gespräch erschien im LandesEcho 10/2016.
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