In der Nacht auf den 21. August vor 50 Jahren beendeten die Armeen von fünf Bruderstaaten den Prager Frühling. Als Angehörige der berühmten 36er-Generation, zu der auch Václav Havel gehörte, erlebte Alena Wagnerová den Reformprozess aktiv mit. Im Gespräch spricht sie über die Entstehung des Prager Frühlings, sein gewaltsames Ende und was wir heute aus den Ereignissen lernen können.
Alena Wagnerová wurde 1936 in Brünn geboren, studierte Biologie und Pädagogik, später Theaterwissenschaft, machte Erfahrungen in verschiedenen Berufen bis sie Theaterdramaturgin wurde und zu schreiben begann. 1969 zog sie in die BRD, wo sie Germanistik und Komparatistik studierte.
Sie lebt in Saarbücken und Prag, schreibt tschechisch und deutsch Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Hörspiele, Beiträge für deutsche und tschechische Zeitungen und Zeitschriften, wie die Neue Zürcher Zeitung und Revue Prostor. Sie ist Autorin der Biographien von Milena Jesenská, der Baronin Sidonie Nádherná und der Familie Kafka sowie Herausgeberin der Briefe von Milena Jesenská sowie des Bandes „Helden der Hoffnung“ über sudetendeutsche Antifaschisten.
LE: Was bedeutete für Sie der Prager Frühling?
Ein befreiendes Gefühl, dass man sich aktiv am Aufbau der Gesellschaft beteiligen und eine eigene Meinung haben kann.
LE: Wann wurde Ihnen bewusst, dass sich etwas verändert und wie?
Ich glaube, es war Anfang der 1960er Jahre, als ich die Möglichkeit bekam, in der Monatszeitschrift Plamen („Die Flamme“) zu publizieren. Vorher war es das Gefühl der Vergeblichkeit sich um so etwas überhaupt zu bemühen. Es war aber keine plötzliche Veränderung, eher eine schrittweise Öffnung.
LE: Was war der Auslöser für den Prager Frühling?
Die Suche nach dem verlorenen Sinn der Revolution. Ein starker Impuls und Legitimation zugleich war der 20. Parteitag der KPdSU und die damit eingeläutete Entstalinisierung.
LE: In einem Beitrag für die tschechische Zeitschrift „Revue Prostor“ beschrieben Sie, wie der Reformprozess durch die Generation der den 1920er Jahren Geborenen eingeläutet wurde. Was war das für eine Generation?
Diese große Gruppe der sozialistischen Intelligenz spielte eine wichtige Rolle im Reformprozess. Es waren in ihrer Mehrheit Angehörige der Generation, die durch München, den Verrat unserer Verbündeten England und Frankreich in ein Wertevakuum gestürzt wurden, und auf der Suche nach einer neuen politischen Orientierung die Antwort in der Idee des Sozialismus fanden. Sie kamen dazu aber nicht über die Partei, sondern die Tradition der sozialistischen Literatur. Dass nach dem Ende des Krieges die politische Fortsetzung der Ersten Republik nicht möglich sein würde, war auch dem mitte-links orientierten Teil der Gesellschaft klar, wie es z.B. die schon 1939 gegründete Widerstandsgruppe „Věrní zůstaneme“ (Wir bleiben treu) war, von der keiner den Krieg überlebte.
Die in den 1920er Jahren geborenen waren das begeisterte Fußvolk der Revolution. Sie begannen den Sozialismus nach Stalins Vorbild zu verwirklichen. Mit der Zeit trat bei ihnen Ernüchterung ein und sie wurden Reformkommunisten. Zu ihnen gehörten u.a. Karel Kosík, Antonín Liehm, Jan Procházka, Ota Śik eine Zeit lang auch Jiří Hájek, Radovan Richta. Mehrheitlich gehörten sie nicht der Funktionärselite an. In diesem Sinn war der Prager Frühling kein Generationswechsel auf der Machtebene.
LE: Obwohl sie nicht zur Elite gehörten, mussten sie aber großen Einfluss haben. Šik wurde immerhin mit der Ausarbeitung eines neuen Wirtschaftsprogramms betraut. Was war mit den anderen?
Diese Gruppe muss man sich als die zweite Ebene im System vorstellen, eine breite Schicht junger Kommunisten, vorwiegend Akademiker, die in Forschungsinstituten, an Hochschulen, in Verlagen und Zeitschriften, in der Kultur, der öffentlichen Verwaltung, sogar auf der Parteihochschule arbeiteten, aber nicht auf der oberen Funktionärsebene. Sie hatten keine Macht, aber sie hatten Einfluss und mit der zunehmenden Liberalisierung des Regimes nahm ihr Einfluss natürlich zu. Die Kultureliten hatten in der tschechischen Gesellschaft traditionell einen wichtigen Platz. In der Samtenen Revolution fanden zum Beispiel die ersten Protestversammlungen in den Theatern statt. Kann man sich so was in Deutschland vorstellen?
LE: Was war die Motivation der Funktionäre der älteren Generation wie Dubček, Smrkovský, Kriegel, sich dem Reformflügel anzuschließen?
Oft waren es Menschen, die mit der Partei schlechte Erfahrungen gemacht hatten, wie z.B. Kriegel und Smrkovský. Und zu dem Reformflügel gehörten auch Kommunisten, die schon vor dem Krieg in der Partei waren, eher Intellektuelle als Funktionäre, einige von ihnen waren in den 1950er Jahren politische Gefangene.
Dubček war in der Hinsicht Neuling, vor allem ein anständiger, lieber Mensch, aber kein großer Politiker. Er wurde Erster Sekretär des Zentralkomitees, weil sich die Reformer und Konservativen auf keinen anderen einigen konnten.
LE: Welche Bedeutung für den Prager Frühling hatten zum Beispiel Menschen wie Eduard Goldstücker, auch ein altes Parteimitglied, der die berühmte Kafka-Konferenz 1963 organisierte? Das Zustandekommen der Konferenz war ja auch schon ein Beweis, dass sich etwas ändert.
Eduard Goldstücker passt genau in das Bild der ersten Generation: Kommunist schon vor dem Krieg, Slowake, nach dem Krieg Diplomat, in den Schauprozessen verurteilt zu lebenslänglich, 1955 rehabilitiert. Für ihn und seine alten Freunde wie Jiří Hájek von der Zeitschrift Plamen bedeutete der Reformprozess die Rückkehr zum ursprünglichen Sinn der Revolution und der Jugend.
Er hatte sicher bedeutenden Anteil am Zustandekommen der Kafka-Konferenz 1963, was einige allerdings anders sehen. Ohne die Zustimmung der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Partei hätte sie nicht stattfinden können. Da haben im Hintergrund sicher mehr Menschen dafür gesorgt, dass sie stattfindet. Goldstücker hat zwar für den Reformprozess viel geleistet, aber seine Bedeutung wird etwas überschätzt.
Die Kafka-Konferenz allerdings war tatsächlich ein bedeutendes kulturpolitisches Signal im Kampf gegen ein dogmatisches Verständnis der Literatur in der Zeit des Personenkults.
LE: Im Prager Frühling ging es primär darum, den Sozialismus zu reformieren, Stichwort „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Stimmen, die das in Frage stellten, standen eher am Rande. Glaubten die Menschen damals noch an den Sozialismus?
Die Idee des Sozialismus, einer besseren Welt, „in der alle Menschen Dichter werden“, wie es die Avantgarde formulierte, linkes Denken überhaupt, waren bei uns schon in der Ersten Republik stark. Die Kommunistische Partei KSČ schwenkte allerdings 1929 auf den stalinistischen Kurs der Dritten Internationale ein. Damit verlor sie bei einem Teil der Intelligenz den Zuspruch.
Nach dem Krieg herrschte bei uns jedenfalls eine große Begeisterung für den Sozialismus, allerdings eine sozialistische Demokratie, einen eigenen tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus. Immerhin war die KSČ damals die stärkste politische Partei. Allerdings in der Situation des beginnenden Kalten Krieges änderte sich das Gleichgewicht der Kräfte und die KSČ schob dem Volk das sowjetische Modell des totalitären Kommunismus unter. Vertreter eines eigenen Wegs zum Sozialismus gab es auch in der DDR, siehe Anton Ackermann. Auch er scheiterte. Bei uns glaubten die Menschen in den 1960er Jahren noch an den Sozialismus, aber an einen etwas anderen Sozialismus als an jenen stalinistischen.
LE: Kern des Prager Frühlings war das Aktionsprogramm der Partei vom April, das am Ende nur zum Teil umgesetzt wurde. Was war das außergewöhnliche, neue an dem Programm?
Es war eine andere Sprache, nicht mehr die Funktionärssprache. Und es war darin die Linie des demokratischen Sozialismus zu erkennen, allerdings unter Bedingung der führenden Rolle der Partei, womit die Reformkräfte in der Partei damals wohl kein großes Problem haben mussten. Die Partei selbst war ja eine progressive Kraft.
LE: Trotzdem reichte das Aktionsprogramm, um die Sowjetunion und die verbündeten Bruderstaaten DDR und Polen zu beunruhigen. Haben Sie damals daran gedacht, dass der Prager Frühling bald gewaltsam beendet werden könnte? Oder haben die Menschen in Ihrer Umgebung das in Betracht gezogen?
Man hat daran gedacht, es aber verdrängt. Und in der Gesellschaft oder den Medien wurde diese Möglichkeit nicht groß thematisiert, es überwog die Euphorie.
LE: Das ist interessant. Man wusste doch, wie blutig der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen wurde.
Das schon, aber das war zwölf Jahre her und die Brutalität war damals auf beiden Seiten. Ein Schock war die Hinrichtung von Imre Nagy. Vielleicht waren wir zu einseitig über den Aufstand informiert. Aber was die Massen in Ungarn wollten, war ein Ende des kommunistischen Regimes, nicht einen besseren Sozialismus wie im Prager Frühling.
Aber die Ereignisse in Ungarn brachten auch bei uns die Menschen in Bewegung. An der Universität gab es Meetings, wo gefordert wurde, an Nationalfeiertagen nicht auch noch die sowjetische Hymne zu spielen. Das führte gleich zu einigen Exmatrikulationen. Mich rettete damals unser Rektor, ein Vorkriegskommunist.
LE: Wie haben Sie jenen schicksalshaften Tag, den 21. August 1968, erlebt?
Ich wohnte damals im Letná-Viertel und auf der Straße, nur wenige Schritte von meiner Wohnung, fuhren im Morgengrauen gepanzerte Wagen aus Richtung Flughafen in die Stadt, auf denen Soldaten lagen Maschinengewehre im Anschlag. Dazu kam das dunkle Donnern der landenden Flugzeuge. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
LE: Aus heutiger Sicht ist fast unglaublich, dass diese relativ kurze Zeit so viel hervorgebracht hat, mindestens für die Menschen im Ostblock. Es entstanden großartige Film und Bücher, es gab freie Medien, man konnte sich frei äußern. Wenn sich Menschen heute daran erinnern, sprechen sie immer wieder von diesem berauschenden Gefühl der Freiheit und großer Euphorie. Was ist vom Prager Frühling geblieben? Sind es gerade die Bücher, Filme, diese Gefühle oder ist da noch etwas mehr?
Natürlich etwas mehr: das Gefühl, bei dem Versuch, einen demokratischen Sozialismus in der Tradition der tschechoslowakischen Demokratie in Präsident Masaryks Geist zu verwirklichen, dabei gewesen zu sein. Masaryk selbst verband übrigens die Zukunft der Demokratie mit dem Sozialismus. Und dann war es das Gefühl, selbst zu sein und gleichzeitig Teil eines Ganzen – ein Bürger. Wir waren damals auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft. Um so schlimmer war dann die Frustration. Der 21. August war für uns ein zweites München.
LE: Der Prager Frühling war der letzte Versuch, den Sozialismus zu reformieren. Nach 1989 hieß es bereits: der Sozialismus ist nicht reformierbar. Andererseits spielten einige Hauptakteure des Prager Frühlings bzw. der Charta 77 auch im November 1989 eine Hauptrolle.
Die KSČ als Partei hat den Prager Frühling opportunistisch verraten. Jene, die den Prager Frühling bis zum Machtantritt von Gustav Husák noch hoch hielten waren Studenten und Bürger. Viele von ihnen waren auch Parteimitglieder. Mit den Säuberungen hat sich die KSČ der Reformkräfte entledigt. In der Slowakei verlief dieser Prozess übrigens etwas gemäßigter. Wer konnte dieser KSČ noch glauben?
Aber Vorsicht, die Chartisten spielten nur zu Beginn der Samtenen Revolution die Hauptrolle. Sehr schnell wurden sie von der Gruppe neoliberaler Ökonomen um Václav Klaus verdrängt. Die Möglichkeit, einen dritten Weg zu realisieren, kam gar nicht mehr zum Zug. Im Unterschied zu Klaus, der ein klares politisches Programm und die Unterstützung des Westens hatte und wusste, was er wollte, fehlte den Chartisten ein klares politisches Konzept für die Zukunft. Die Kraft der Charta lag in der bürgerlichen Opposition. Darin besteht ihre historische Bedeutung, in gewissem Maße eine Fortsetzung des Geistes des Prager Frühlings. Alle Revolutionen von 1989 überschätzten die Freiheit und übersahen, dass ohne Brüderlichkeit und Gleichheit es keine Freiheit gibt.
LE: In diesem Jahr gedenken wir mehrerer Jubiläen mit einer Acht in der Jahreszahl (1918, 1938, 1948, 1968). Welchen Platz hat der Prager Frühling unter diesen für Tschechien so schicksalshaften Jahren?
Vielleicht steht er sogar auf dem ersten Platz als großer und einzigartiger Versuch, die Demokratie mit dem Sozialismus zu verbinden. Der damalige so genannte Ostblock hat diese Chance selbst vergeben und ich denke, der kapitalistische Westen hat das nicht besonders bedauert.
LE: Gibt es etwas, was wir vom Prager Frühling lernen können?
Die Hoffnung, eine Gesellschaft verändern zu können. Das Bewusstsein, ein Ganzes zu sein. Wer damals versagt hat, waren nicht die Bürger, sondern die kommunistische Machtelite, der bis auf Kriegel und Mlynář der Mut gefehlt hat. Gegenüber Moskau sind sie nicht selbstbewusst genug aufgetreten, haben nur laviert und sich damit in Moskau selbst degradiert.
Aber nichts anderes tun die Machteliten auch heute. Das Wichtigste, was wir heute beim Gedenken an den Prager Frühling lernen können aber ist, wie der Neoliberalismus still und unauffällig die Gesellschaft verändert hat und weiter verändert, wie er eine Schraube nach der anderen angezogen hat, ohne dass die Gesellschaft das groß bemerkt hat. Und schlimmer noch, einschließlich der Sozialdemokraten und Grünen hat sie auch den Verlust jeglicher Vision auf eine Veränderung der Gesellschaft akzeptiert. Und gerade an dieser Stelle, der tagtäglichen politischen Arbeit muss man beginnen, die Gesellschaft von unten zu verändern. Die Macht der Konzerne ist nichts anderes als ein Papiertiger, man muss es nur begreifen.
LE: Am Ende Ihres Beitrags für die „Revue Prostor“ stellen Sie die Frage, was wohl schlimmer und auswegloser ist: Die Herrschaft der Ideologie oder des Geldes? Wie lautet Ihre Antwort?
Für mich ist es eindeutig die Macht des Geldes. Gegen Ideologien kann man immer argumentieren, auch gegen eine völlig inhumane wie den Nationalsozialismus. Und jede Ideologie hat in sich ein Konzept der Zukunft, Geld hat als Ziel nur sich selbst. Und gegen Geld gibt es kein Argument.
Das Gespräch führte Steffen Neumann.