Mit ihrem preisgekrönten Erstlingswerk „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ hat Kateřina Tučková einen wichtigen Beitrag zur tschechischen Vergangenheitsbewältigung geleistet, besonders auch im Hinblick auf den Brünner Todesmarsch. Im Gespräch mit der LandesZeitung beschrieb sie, was sie antreibt.
LZ: Gerade haben Sie, schon zum zweiten Mal, den prestigeträchtigen Buchpreis „Magnesia Litera“ erhalten. Herzlichen Glückwunsch. Für was wurden Sie ausgezeichnet?
Für mein neuestes Buch „Žítkovské bohyně“ (Die Göttinen von Žitkova), das im vergangenen Jahr herauskam. Besonders freut mich, dass ich den Leserpreis gewonnen habe, also dass die Leser entscheiden und für mich stimmten, in den Buchläden und auch per e-mail.
LZ: Was hat so viele Leser an Ihrem Buch so fasziniert?
Das Buch beschreibt die Lebensgeschichten einiger Generationen von Frauen, die im mährisch-slowakischen Grenzgebiet lebten. In den Weissen Karpaten, einem Gebirgszug mit einer ganz speziellen Atmosphäre. Man nannte sie Göttinen, weil man über sie sagte, sie konnten Gott um Hilfe bitten, im Namen von Menschen, die seine Hilfe suchten. Es waren Heilerinnen und Kräuterweiber. Es hieß auch, sie könnten die Zukunft voraussagen und beherrschten die Kunst der Liebesmagie. Also einen Mädchen ihren Liebsten herbeizaubern oder -locken. Sie waren gewandt in einigen uralten Praktiken, die von Generation zu Generation übergeben wurden, immer von der Mutter auf die Tochter. Ihre Geschichte ist interessant, nicht nur ihrer Persönlichkeiten wegen, sondern auch wegen der Schicksale, die die sie erleiden mussten. Denn sie wurden zu jeder Zeit verfolgt. Von der Kirche, von den Behörden, im Protektorat wie im Kommunismus. Die kommunistische Geheimpolizei StB, so sagt man, ließ die letzte von ihnen in einer psychiatrischen Klinik einsperren. Und so endete dann auch das Phänomen der Göttinen von Žitkova.
LZ: Suchen Sie aktiv nach Geschichten von Frauen und ihren Schicksalen?
Ja. Von den Göttinen von Žitkova habe ich erfahren, als ich nach etwas suchte, das ähnliche Elemente erhalten würde, wie mein erster Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“: Geschichten, die sich entlang der Geschichte, am besten der des 20. Jahrhunderts, winden und die bis in unserer heutige Zeit hinein münden. Und deren Heldinnen Frauen sind. Das hat sich bei Gerta Schnirch so ergeben, wie auch bei diesen Göttinnen. In beiden Fällen können wir erst heute Bilanz ziehen. Das gilt umso mehr für die Göttinnen, weil deren Akten in den StB-Archiven erst vor kurzem freigegeben wurden.
LZ: Für Ihren Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ haben sie schon 2010 den Magnesia Litera Leserpreis erhalten. Hat Sie das überrascht? Das Thema der Vertreibung der Deutschen ist in Tschechien ja nicht allzu populär.
Ich war total überrascht. Eben weil sich das Buch mit einem Thema beschäftigt, das hier viele Leute orthodox ablehnen, die sich ihr Bild vom bösen Deutschen nicht zerstören lassen wollen. Die sagen sich dann, warum sollen wir ein Buch lesen, das sie irgendwie von ihrer Schuld befreit. Für andere ist das Thema vielleicht zu kompliziert oder es interessiert sie einfach nicht. Deshalb hat mich richtig geschockt, dass so viele Leute das Buch gelesen und dafür gestimmt haben. Obwohl es sich mit einem so kontroversen Thema, wie dem Brünner Todesmarsch beschäftigt. Aber es war ein freudiger Schock.
LZ: Warum und wie sind Sie darauf gekommen, einen Roman über den Brünner Todesmarsch zu schreiben.
Das Thema hat mich gefunden, ich habe ja keine deutschen Wurzeln. Im Jahre 2003 bin ich nach Brünn gezogen, in einen Stadtteil, der gleich ans historische Zentrum angrenzt. Dort gibt es wunderschöne klassizistische Bauten, viel Jugendstil. Aber ich fand sie alle in einem völlig heruntergekommenen Zustand. Ich habe mich also immer wieder gefragt, was mit diesem Viertel passiert ist, in dem an manchen Häusern noch deutsche Inschriften zu sehen waren. Denn das Viertel war bekannt als Brünner Bronx und niemand wollte, der Kriminalität wegen dort wohnen. Dann habe herausgefunden, dass in diesem Viertel vor dem Krieg viele Brünner Deutsche gelebt haben und dass sie 1945 vertrieben wurden.
LZ: Gerta Schnirch hat wirklich existiert?
Hinter der Figur der Gerta Schnirch verbirgt sich die Geschichte zweier Frauen, die den Brünner Todesmarsch mitgemacht haben. Ich habe die Geschichte bei uns im Haus gefunden Dann habe ich Zeitzeugen gesucht und befragt und was die mir erzählt haben, kam mir komisch vor. Dass eigentlich nichts passiert war, außer dass die deutschen Nachbarn weggegangen sind und ihre Wohnungen Kriegsheimkehrern überlassen haben. Als ich das dann später mit den dramatischen Erzählungen derer verglich, die den Brünner Todesmarsch mitgemacht haben, sagte ich mir, dass die Wahrheit vollkommen anders ist.
LZ: Warum haben Sie es nicht einfach bei den Erzählungen der tschechischen Nachbarn belassen? Was hat Sie angetrieben, weiter zu machen?
Wahrscheinlich die Tatsache, dass ich zu der Generation gehöre, die mehr Details in Erfahrung bringen kann. Ich konnte frei mit anderen Leuten aus meiner Generation darüber reden, mit Historikern zum Beispiel. Bei älteren Leuten war das etwas anderes, die waren nicht ganz so offen. Als ich begann, mich mit dem Thema Vertreibung zu beschäftigen, das war so 2003 – 2004, war ich ziemlich geschockt darüber, wie das alles abgelaufen ist. Dass es gar nicht so friedlich war, wie wir in den Geschichtsstunden nur ein paar Jahre zuvor auf dem Gymnasium gelernt hatten. Da haben wir die Frage der Vertreibung gar nicht berührt. Uns wurde nur gesagt, dass eine deutsche Minderheit bei uns lebte, die nach dem Krieg fortgegangen ist. Nichts über die Umstände, unter denen dieses „Fortgehen“ abgelaufen war. Ich habe dann mit meinem Kumpel David Kovářik darüber geredet, der seine Dissertation über die Vertreibung geschrieben hat. Der hat mir geholfen, den Deckel dieses Themas zu lüften und mit einer künstlerischen Sichtweise an es heranzugehen. Was sich da vor mir geöffnet hat, war ein anderes 20. Jahrhundert als das, das ich kannte.
LZ: Die beiden Frauen, die Ihre Gerta Schnirch ausmachen, sind in der Tschechoslowakei verblieben. Wie haben sie sich hier später zu ihrer deutschen Herkunft gestellt?
Die erste Frau war sieben Jahre alt, als sie auf den Brünner Todesmarsch musste. Sie hat mir sehr viel erzählt, ich habe oft mit ihr gesprochen. Für sie war das ein schrecklich traumatisierendes Erlebnis. Sie hat auf ihrem Weg Gewalttaten mitbekommen, die danach geleugnet werden. Denn über den Brünner Todesmarsch – wenn er von den kommunistischen Historikern überhaupt erwähnt wurde – wurde immer behauptet, er sei gewaltfrei abgelaufen und dass es nur Opfer gab, weil im Lager Pohořelice (Pohrlitz) Ruhr und Typhus ausgebrochen waren. Sie aber hat zum Beispiel gesehen, wie einer der Gardisten einer Mutter ihren Säugling entrissen und ins Feld geworfen hat. Und solche Bilder musste sie ihr Leben lang mit sich tragen, ohne je darüber reden zu dürfen. Denn die einzige Wahl, die sie hatte um in der Tschechoslowakei ein ruhiges Leben zu führen, war ihre deutsche Herkunft zu vergessen, tschechisch zu sprechen und nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ihr ganzes Leben lang musste sie ihre Wurzeln leugnen.
LZ: Auch ihrer Familie, ihren Kindern gegenüber?
Diese Frau hat immer zu mir gesagt: „Reden Sie nicht mit meiner Tochter darüber, sie mag es nicht, wenn ich über meine deutschen Wurzeln rede.“ Es war einfach so, dass die Generation, die den Brünner Todesmarsch miterlebt, das Stigma deutsch zu sein, nicht an ihre Kinder weiterreichen wollte. Die deutschen Wurzeln waren für sie etwas, das sie aus ihrem Leben eliminieren wollten. Mit der nächsten Generation hat man nicht über die deutschen Vorfahren geredet oder darüber, was ihnen nach dem Krieg passiert ist. Und dieses Momentum des Nichtmitteilens hat einen Graben geschaffen, gegenüber der nächsten Generation. Die hat sich dann auch lieber gleich assimiliert. Erst die dritte Nachkriegsgeneration, zu der ich mich auch zähle, kann seit der Revolution offen über die Vergangenheit reden.
Dann hatte ich noch Briefe einer Frau zur Verfügung, die wie Gerta Schnirch, den Brünner Todesmarsch als 21-jährige mit einem sechs Monate alten Baby mitgemacht hat. Diese Frau ist ebenfalls in Brünn geblieben, wo sie Zwangsarbeit leisten musste. Manchmal hat sie Briefe an Zeitungen geschrieben, in der Hoffnung, dass sie abgedruckt werden und so Informationen darüber an die Öffentlichkeit kommen, was die böhmischen und mährischen Deutschen alles mitmachen mussten. Die Hoffnung war bis 1989 natürlich vergebens. Dank dieser Briefe, die ich alle zur Verfügung habe, habe ich selbst fühlen können, wie schlimm es auf diesem Marsch und auch danach gewesen sein muss. Erst bleibt man verlassen irgendwo in Südmähren zurück, dann Monate der Ungewissheit, ob man nicht doch noch vertrieben wird und dann Jahre, bis man die Staatsbürgerschaft erhält und als gleichberechtigter Bürger gilt.
LZ: Was waren das für Menschen, die auf den Brünner Todesmarsch geschickt wurden, die aus Brünn vertrieben wurden? Glaubt man Präsident Zeman, waren es doch alles nur Verräter, die froh sein sollten, dass sie nicht gleich hingerichtet wurden.
Mit der Meinung von Präsident Zeman kann ich absolut nicht übereinstimmen. Gerade der Brünner Todesmarsch war eine sehr traurige Angelegenheit, weil er unschuldige Menschen betraf. Die Verräter, die Nazis, die waren doch schon alle längst weg, als Brünn befreit wurde. Von den 60 000 Brünner Deutschen waren bei Kriegsende noch 24 000 in der Stadt, von denen 19 800 vertrieben wurden. Das waren Frauen, Kinder, alte Menschen. Auf diesen Marsch wurden Menschen geschickt, die geblieben waren, weil sie sich hatten nichts zu Schulden kommen lassen und ein reines Gewissen hatten. Die traf die Rache, nicht die, die schrecklich benommen hatten. Ich halte den Brünner Todesmarsch für ein wirklich grausames Verbrechen, das an den Falschen begangen wurde.
LZ: Ging es nur um Rache oder hatte es auch andere Gründe, warum man die Deutschen los werden wollte?
Es gibt diese Alibi-Erklärung, dass man die Deutschen aus Brünn bringen musste, um Wohnungen für Kriegsheimkehrer zu haben. In Wirklichkeit hatte die Vertreibung aber ganz niedrige Beweggründe. Die Vertreibung war organisiert von Arbeitern der Brünner Waffenwerke. Die hatten den ganzen Krieg lang brav für die Wehrmacht gearbeitet, da gab es nicht einen Sabotagefall. Und die nahmen dann die besten Wohnungen für sich in Beschlag.
LZ: Und die Brünner Öffentlichkeit? Die ist doch nicht eines Tages aufgewacht mit der Idee, die Deutschen zu vertreiben. Wie hatte sich die deutsche Besatzung auf die Stadt und ihre Bevölkerung ausgewirkt?
Diese anti-deutsche Welle ließ sich erwarten, nach sechs Jahren Besatzung und all den Hinrichtungen. Die wurden in Studentenwohnheimen fast mitten in der Stadt durchgeführt. An manchen Tagen konnte man die Schüsse der Hinrichtungskommandos hören und so herrschte in Brünn Angst, die dann in Hass umschlug. Ein Schlüsselmomentum war die Rede, die Präsident Beneš dann Anfang Mai auf dem Dominikaner Platz in Brünn hielt. Darin sagte er den legendären Satz, dass die deutsche Frage liquidiert werden muss. Bei solch harten Wörtern ist es kein Wunder, dass ein paar Tage später tatsächlich Deutsche liquidiert wurden.
LZ: Warum beschäftigen sich junge Tschechinnen und Tschechen wie Sie heute mit der Vertreibung der Deutschen?
Ich glaube es ist wichtig, dass man seine Geschichte kennt. Sonst könnte man sie wiederholen. Und solche Fehler dürfen sich nicht wiederholen. Mich stört die tschechische Geschichtsinterpretation, die uns als brave Täubchen darstellt, die für nichts können. Wir waren zu Gräueltaten wie dem Brünner Todesmarsch fähig. Und jetzt sind wir nicht fähig, uns dies einzugestehen? Mir kommt das lächerlich vor. Die Generation meiner Eltern weiß doch nichts über die Vertreibung, meine Eltern erfuhren von mir darüber, dabei lebt unsere ganze Familie in der Nähe von Brünn und alle arbeiten oder studieren in der Stadt. Einfach die Augen zu verschließen kommt mir scheinheilig vor. Und das sollte nicht so sein.
LZ: Die Bewältigung dieser Vergangenheit ist eine sehr empfindliche Angelegenheit. Haben Sie nicht Angst, dass Ihre Arbeit missbraucht wird?
Mit dieser Frage beschäftige ich mich seitdem “Die Vertreibung der Gerta Schnirch” 2009 herauskam. Ich, beziehungsweise mein Verlag, befürchtete, dass das Buch als politisches Argument aufgenommen wird. Tschechische Kritiker haben natürlich sofort geschrieben, dass das Buch auf Bestellung der Deutschen entstanden ist. Aller Deutschen, das war das Lächerlichste an dieser Behauptung. Allgemein wurde dann erwartet, dass das Buch ins Deutsche übersetzt wird, um seine Bestimmung zu erfüllen. Als ich aber auf Lesungen ging und die ersten Teilübersetzungen auftauchten, traf ich bei deutschen Verlegern nur auf Ablehnung. Zuerst kam uns das völlig unverständlich vor. Inzwischen, ich habe gerade einen zweimonatigen Stipendienaufenthalt in Berlin hinter mir, habe ich es verstanden. Die Deutschen von heute interessieren sich nicht für das Thema. Diese Fragen wurden schon x-mal durchgekaut. Wir hatten zwar Verleger an der Hand, die ernsthaft erwägten, das Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. Alle lehnten sie schlussendlich ab, mit der Begründung, sie würden Gegenwartsthemen bevorzugen und das Buch würde eh nur Revanchisten interessieren, die sie nicht unterstützen würden. So sind bislang nur ein paar Kapitel übersetzt, die trage ich auf Lesungen vor, zu denen ich sehr oft geladen werde, in Literaturhäuser oder an Universitäten.
LZ: Im Jahre 2009 haben Sie den Förderpreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft für Literatur und Publizistik erhalten. Wenn „Gerta Schnirch“ noch nicht auf Deutsch erschienen ist, dann haben Sie diesen Preis weniger für Ihre literarischen Fähigkeiten erhalten, als für das Thema, mit dem sich das Buch beschäftigt, oder?
Sicher des Themas wegen. Und auch deswegen, weil ich jemand aus der jungen Generation bin, der sich mit der Frage der Vertreibung beschäftigt. Als ich 2009 zur Preisverleihung auf dem Sudetendeutschen Tag war, war es eine sehr interessante Erfahrung für mich. Die Leute, die ich dort getroffen habe, hatten das Bedürfnis, sich zu erinnern, zu reden. Die alten Leute dort wollten nicht mit dem Gefühl sterben, die Schuldigen, die Vertriebenen zu sein. Viele haben sich einfach gefreut, dass jemand aus Tschechien über diese Zeit reflektiert. Ich bin dort sehr herzergreifend empfangen worden und haben kein einzigen dieser sudetendeutschen Stereotypen getroffen, von denen uns in Tschechien immer wieder vorgehalten wird. Sie wissen schon, den Sudetendeutschen der von Deutschland aus die Hand nach Tschechien streckt, und uns unsere Häuser wegnehmen will.
LZ: Dieser Sudetendeutsche existiert ja auch nur in der tschechischen Vorstellung und zum Stimmenfang. Denken Sie nur an die Präsidentschaftswahlen.
Ja, da war ja wirklich toll zu sehen, wie tief diese Stereotype Vorstellung verwurzelt ist.
LZ: Sie sind nicht nur eine erfolgreiche junge Erzählerin, Sie arbeiten auch als Ausstellungskuratorin und promovieren in Kunstgeschichte. Über was genau?
Ich bin gerade im letzten Jahr meines Doktorstudiums an der Prager Karlsuniversität. Ich muss also bald meine Dissertation fertig haben, die ich über die Künstlergruppe Radar schreibe. Die war in den 1960er Jahren bei uns aktiv und war in der so genannten grauen Zone. Diese graue Zone interessiert heute niemanden mehr bei uns. Ich halte es aber für notwendig, sie neu zu bewerten und ihre Künstler zu rehabilitieren.
LZ: Sie gehen einfach gerne zurück in die Vergangenheit und bringen Dinge ans Licht, über man heute nichts mehr weiß oder wissen will.
Ja, weil es mir einfach leid tut, wenn Dinge einfach verschwinden und man dann nichts mehr über sie weiß.
Das Gespräch führte Alexandra Mostýn; es erschien in der LandesZeitung vom 7. Mai 2013.
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