Die Brünner Konferenz „Dialog in der Mitte Europas“ sucht Auswege aus den gegenwärtigen Herausforderungen und findet bemerkenswerte Ansätze. Denn die Ursachen liegen tiefer und haben nichts mit Corona zu tun.
Manche Fragen sind so einfach wie kompliziert: „Wie können wir die Krise überwinden?“ Gestellt wurde sie, wie es die aktuellen Umstände wollen, in einem Chat einer Videokonferenz. Beantworten sollte sie einer, der es wissen musste: Ján Figeľ, der als EU-Kommissar und in verschiedenen Spitzenämtern nicht nur seine Heimat Slowakei, sondern auch Mitteleuropa und Europa mitgestaltet hat.
Bei der Videokonferenz handelte es sich um das Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ der deutschen Ackermann-Gemeinde und der tschechischen Bernard-Bolzano-Gesellschaft. Nun war diese Konferenz nicht angetreten, die Pandemie und ihre Folgen zu lösen. Doch um sie herum kam sie natürlich auch nicht. Vor einem Jahr gehörte sie zu den ersten „Opfern“ der Pandemie, als die Veranstaltung kurz nach dem Ausbruch der Epidemie in Europa kurzfristig abgesagt werden musste.
Für dieses Jahr entschieden sich die Veranstalter scheinbar für eine Wiederholung dessen, was schon letztes Jahr geplant war, allerdings in abgespeckter Version. Aus dem dualen Titel des Vorjahres (Zwei Europas?) wurde ein die mehrfache Zerissenheit betonender „Gespaltene Gesellschaften – gespaltenes Europa“. Der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde, Martin Kastler, erinnerte an die plötzliche Schließung der EU-Binnengrenzen vor einem Jahr, die auch den grenzüberschreitenden Aktivitäten zwischen Tschechien und Deutschland einen harten Schlag versetzten. Das Symposium war jedoch nicht nur eine Pandemie weiter, welche anders als viele Ereignisse vorher, den Menschen direkt in das Leben eingriff und in vielerlei Hinsicht die bestehende Spaltung verstärkte, sondern befand sich noch mitten drin.
Worte ohne Taten
„Zur Krise der liberalen Demokratie kommt es überall dort, wo die Worte von den Taten, die Worte von der Verantwortung getrennt werden“, analysierte Figeľ in seinem Eingangsvortrag zum ambitionierten Thema „Was trennt und verbindet Europa? Wie man die Einigkeit Europas wiederherstellen kann“. Worten, denen keine Taten folgen, Versprechen, die nicht eingehalten werden. Figeľ schien direkt von der allgemein herrschenden Verzweiflung im Umgang mit der Pandemie und damit vielen aus dem Herzen zu sprechen. Gerade jetzt könnte Europa durch die Bekämpfung der Pandemie zusammengeschweißt einiger als je zuvor sein und doch bietet Europa ein national bestimmtes, zerrissenes Bild. Figeľ erinnerte denn daran, dass zu der wichtigen Vielfalt auch die Einheit gehört. Er ist zwar überzeugt, dass Europa auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen wird, wie schon in den vielen Krisen zuvor. Aber auch er kommt nicht umhin, der Europäischen Union auf den Weg zu geben: „Europa muss die Anführerin der Würde und Menschlichkeit werden.“
Ob die Pandemie Europa stärkt oder im Gegenteil ihre Schwäche gezeigt hat, darüber gingen im Laufe der Konferenz die Meinungen auseinander. Im ersten Panel analysierten der Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Warschau Marek Prawda, der Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt, die Historikerin Veronika Pehe und der Direktor der Katholischen Akademie Dresden Thomas Arnold die Stimmungslagen in Mitteleuropa und diskutierten über Alternativen zur liberalen Demokratie. Dass die illiberalen Demokratie, auf die Ungarn und auch Polen eingeschwenkt sind, jene Alternative wäre, welche die aktuelle Krise besser in den Griff bekommt, konnte diese allerdings nicht unter Beweis stellen. Martin Prawda entlarvte sie als reine Strategie zur Machtübernahme und Machterhalt. „Der Umbruch von 1989 wird umerzählt. Die Revolution müsse erst noch vollendet werden“, so Prawda. Das war 2010 in Ungarn der Fall wie 2015 in Polen. Und auch die AfD in Deutschland bedient sich ähnlicher Muster, wie vor den Wahlen ostdeutscher Landtage im vergangenen Jahr zu beobachten war. Allerdings gebe es sowohl in Ungarn und Polen Anzeichen, dass die illiberale Demokratie bereits ihren Zenit überschritten habe. Genauso wie in Tschechien, wo sie nie so weit umgesetzt werden konnte.
Falsche Ostversteher
„Die eigentliche Zäsur ist die Globalisierung“, stellt Marek Prawda fest. „Nicht jedes Defizit sollten wir auf die Transformation schieben, dass alles an unserer Unfähigkeit liegt, die Demokratie mit Leben zu erfüllen“, rät er nach innen. Dazu müsse das immer noch vorherrschende Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen überwunden werden, stimmt auch Martin Patzelt zu. Und nach außen fordert er eine Begegnung auf Augenhöhe und Respekt durch den Westen: „Die ostmitteleuropäische Perspektive muss Teil des europäischen Gedächtnisses sein.“ Sogenannte „Ostversteher“, die eher vor Orbán zu Kreuze kriechen sind dagegen wenig hilfreich.
Das zweite und letzte Panel der Konferenz richtete den Blick wieder auf Europa. Europa habe bei der Bekämpfung viele Chancen vertan, wie etwa die gemeinsame Beschaffung von Impfstoff oder die Entwicklung einer gemeinsamen Corona-App, äußerte sich Thomas Erndl (MdB, CSU). Gergely Pröhle, Direktor der Otto-von-Habsburg-Stiftung, zeigte sich ähnlich wie Erndl enttäuscht über das Agieren der EU in der Pandemie und sprach von einem „Rückschlag für die europäische Idee“. Wie könnte es also besser funktionieren? Die Piraten-Politikerin Markéta Gregorová (MEP/Fraktion Grüne) plädierte für grundlegende Reformen der europäischen Institutionen, etwa für eine Demokratisierung der Europäischen Kommission oder dafür, dass das Europäische Parlament eigenständig Gesetze initiieren kann. Nicht zuletzt stellte sie die Frage in den Raum, ob die Nationalstaaten überhaupt noch der geeignete Rahmen sind, innerhalb dessen die Politik Lösungen für zunehmend grenzüberschreitende Probleme anbieten kann. „Wir müssen uns darüber unterhalten, ob nicht die Lösung der Probleme in den Regionen liegt“. Viele hätten Angst, dass mit der Aufgabe nationalstaatlicher Kompetenzen Identitäten verlorengingen, doch letztlich seien es die Regionen, die Identitäten stiften und Traditionen aufrechterhalten, so Gregorová.
Keine Alternative zur Europäisierung
Auch wenn die anderen Gregorová insoweit zustimmten, dass Zukunftsfragen nur in Europa gelöst werden können und überregionale Koordination notwendig sei, stießen ihre Reformideen jedoch auf wenig Gegenliebe. Robert Żurek, Historiker und Direktor der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, sagte: „Langfristig gibt es keine Alternative zur Europäisierung der demokratischen Prozesse, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden gemeinsames Handeln immer stärker erzwingen und damit werden die Nationalstaaten nicht fertig. Aber wir sind nicht darauf vorbereitet, Menschen denken in nationalen Kategorien.“ Pröhle lehnte es vehement ab, etwas am Subsidiaritätsprinzip oder der Rollenverteilung der europäischen Institutionen Parlament, Kommission und Rat zu ändern. „Die Kommission ist Hüterin der Verträge und keine politische Instanz. Das wird von den Visegrád-Staaten in Brüssel sichtbar gemacht“, mahnte er.
Wie es mit Europa und den Nationalstaaten in Zukunft weitergeht, bleibt auch nach der Konferenz eine offene Frage. Doch eins ist sicher: Die Pandemie bleibt ein Lackmustest für Europa.