2020 war ein turbulentes Jahr! Wir werfen einen Blick zurück und präsentieren Ihnen noch einmal unsere in diesem Jahr meistgelesenen Beiträge – größtenteils abseits von Meldungen über Corona-Maßnahmen, Lockdowns oder die neusten Infektionszahlen. Auf Platz 7: „Als der Krieg fast zu Ende war.“ Die Tschechoslowakei fiel Hitler-Deutschland schon lange vor Kriegsbeginn zum Opfer und wurde erst als eines der letzten Länder Europas befreit. Nach Böhmen und Mähren kam der heiße Krieg erst in den letzten Wochen, dafür umso blutiger und einen Tag länger. Kurz darauf begann der Terror erneut, diesmal von tschechischer Seite.
Als Anfang Mai 1945 der Zweite Weltkrieg kurz vor seinem Ende stand, trat er auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik in seine blutigste Phase. Bis dahin war das von Deutschland besetzte Protektorat Böhmen und Mähren von Kampfhandlungen fast verschont geblieben. Und es war noch fest in deutscher Hand. Anders als im Deutschen Reich, das fast komplett von den Alliierten besetzt war, herrschten im Protektorat noch die deutschen Besatzer.
„Bis April 1945 gab es immer wieder alliierte Bombenangriffe, wie die Luftschläge auf Aussig (Ústí nad Labem), das am 17. und 19. April von amerikanischen Fliegern angegriffen wurde“, sagt der Historiker und Stadtarchivar von Aussig, Petr Karlíček. Ziel war die Zerstörung des Eisenbahnknotens. Dabei starben Hunderte Menschen, und die Innenstadt wurde fast völlig zerstört.
Britische und amerikanische Bomber flogen vorher immer wieder Angriffe auf strategisch wichtige Standorte der Rüstungsindustrie wie die Škoda-Werke in Pilsen (Plzeň) und das Hydrierwerk in Maltheuern (Záluží) bei Oberleutensdorf (Litvínov). Doch die Zivilbevölkerung blieb vom heißen Krieg größtenteils verschont. Die Nationalsozialisten hatten sich das zunutze gemacht und kriegswichtige Produktion, die in Deutschland von alliierten Luftangriffen bedroht war, in ihr Protektorat Böhmen-Mähren verlegt. Dafür wurden eigens unterirdische Fabriken gebaut, wo zehntausende Insassen von Konzentrationslagern unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten und ihr Leben ließen. Die tschechische Bevölkerung wurde nicht behelligt, solange sie loyal blieb und für die Deutschen arbeitete. Die Eliten genauso wie deutsche Antifaschisten dagegen wurden verfolgt, inhaftiert und umgebracht. Zehntausende Tschechen mussten Zwangsarbeit leisten, zehntausende Juden, Roma, Christen wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.
Zerstörte Lagerhallen am Ostbahnhof von Tetschen (Děčín) am 8. Mai 1945, Foto: Staatliches Kreisarchiv Tetschen
Doch der heiße Krieg schien an Böhmen und Mähren vorbeizugehen. Für die Rote Armee war die Befreiung Polens und der Durchbruch nach Berlin entscheidend. Für die Amerikaner wiederum lagen die tschechischen Länder hinter Deutschland. Erst im März 1945 erreichte die Rote Armee bei Mährisch Ostrau (Ostrava) tschechisches Gebiet. Von Westen stießen im April die Amerikaner nach Westböhmen vor. Und am 5. Mai brach in Prag und weiteren Städten der Aufstand gegen die deutschen Besatzer aus.
In den Grenzgebieten lebten dagegen überwiegend Deutsche, die bei der Angliederung an das Deutsche Reich 1938 die Wehrmacht als Befreier gefeiert hatten. „Die anrückende Rote Armee löste bei den meisten Menschen eher Angst als Hoffnung aus“, sagt Historiker Karlíček. Die Rote Armee stieß unter ihrem Marschall Konew von Dresden kommend über das Erzgebirge nach Böhmen vor. Von Osten drang die Zweite Polnische Armee in den Schluckenauer Zipfel. „Die Einwohner wehrten sich nicht, sondern hissten weiße Fahnen“, sagt Karlíček. SS-Einheiten leisteten vor allem gegen die Rote Armee und die Polnische Armee teils erbitterten Widerstand.
Scheinbar normales Leben
Andererseits, so Karlíček, führten die Menschen in den Grenzgebieten noch bis vor Kriegsende ein beinahe normales Leben. „Die Menschen gingen zur Arbeit, die Kinder in die Schule. Noch am 8. Mai erschien in Reichenberg (Liberec) die Zeitung „Die Zeit“ mit einem flammenden Appell zur Verteidigung der Heimat des Reichsstatthalters Konrad Heinlein, der sich sogleich Richtung Westen in amerikanische Kriegsgefangenschaft absetzte“, so Karlíček.
Das Kriegsende war in Nordböhmen geprägt von großen Menschenbewegungen. Die Städte waren überfüllt. „Auf dem Gebiet des Sudetengaus befanden sich Hunderttausende Zwangsarbeiter ganz unterschiedlicher Herkunft. Dazu kamen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten und aus Sachsen“, so der Historiker. All diese Menschen gerieten in den letzten Kriegstagen zwischen die Fronten. Die meisten Opfer forderten aber die grausamen Todesmärsche, auf welche die Nationalsozialisten die Insassen der Konzentrationslager in den letzten Kriegswochen getrieben hatten.
Bereits vor Eintreffen der Roten Armee kam es in einigen Städten zu ersten friedlichen Machtübergaben. Das Kommando übernahmen tschechische und in den Sudeten auch deutsche Antifaschisten. „Das änderte sich erst in den Wochen danach. Prag waren die deutschen Antifaschisten ein Dorn im Auge. Und auch die tschechischen lokalen Führer wurden schnell durch Leute aus Prag ersetzt, da sie im Verdacht standen, zu deutschfreundlich zu sein“, sagt Karlíček.
Unbekannte Bomber
Bisher wenig bekannt sind Ereignisse der letzten Kriegs- und ersten Friedensstunden. Als die Waffen offiziell endlich schwiegen, fielen aus heiterem Himmel plötzlich noch einmal Bomben. Am 8. und 9. Mai ließ die Luftwaffe der Roten Armee Städte in Böhmen und Mähren bombardieren. Die Angriffe forderten allein in Nordböhmen über 500 Opfer, in ganz Tschechien weit über 1.000. „Darunter waren größtenteils Deutsche, aber auch viele Flüchtlinge und Zwangsarbeiter, paradoxerweise auch russische“, sagt Historiker Karlíček. Am schwersten war Tetschen (Děčín) betroffen. „Am Tag der Kapitulation wurde das historische Stadtzentrum zerstört.“
Lange war nicht bekannt, wer dahinter steckte, denn die Flieger hatten keine Hoheitszeichen. In einigen Berichten wurde dafür die „faschistische Luftwaffe“ verantwortlich gemacht. „Erst über 70 Jahre später nach teilweiser Öffnung der russischen Archive kam die Wahrheit ans Licht“, sagt Karlíček. Marschall Konew, der am 9. Mai in Prag einmarschierte und um dessen Rolle bei der Befreiung Prags heute in Tschechien heftig gestritten wird, hatte die Schläge selbst angeordnet. Warum, ist nicht restlos aufgeklärt. Am wahrscheinlichsten ist der Grund, die Wehrmacht zu hindern, ins von den Amerikanern besetzte Westböhmen vorzudringen, um nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu fallen. Die Opfer waren aber Zivilisten.
An einer Aufklärung der Luftschläge gab es in der Tschechoslowakei nachz 1945 kein Interesse, da die meisten Opfer Deutsche waren, die ohnehin bald vertrieben werden sollten.